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Rechte Szene im Herrenberg, Teil II: Sozialisation im Herrenberg

TIm zweiten Teil der Serie zum Erfurter Herrenberg beschäftigen wir uns mit der Sozialisation von dort lebenden Kindern und Jugendlichen. Dabei soll analysiert werden, wie die Jugendlichen am Herrenberg den Erstkontakt zum extrem rechten Milieu herstellen und wie sich ihr soziales Umfeld auf den Einstiegsprozess auswirkt. Insbesondere die drei zentralen Sozialisationsbereiche Familie, Peer-Zusammenhängen (Kontakten zu Gleichaltrigen) und Schule sollen dabei im Fokus dieses Artikels stehen.

Familie

Der Familie kommt in der Entwicklung der Persönlichkeit junger Menschen eine besondere Rolle zu. Im familiären Umfeld machen Kinder ihre ersten Sozialisationserfahrungen, die sie noch ein Leben lang prägen. Dies gilt auch dann, wenn die Eltern menschenfeindliche Einstellungen vertreten. Das ist im Erfurter Südosten gehäuft der Fall, da die rechte Szene diesen Ort als einen Schwerpunkt für ihre Aktivitäten auserkoren hat. Wir werden darauf im nächsten Teil der Serie noch genauer zurückkommen. Für jetzt reicht es zu wissen, dass die Eltern vieler Kinder am Herrenberg mit dem rechten Milieu sympathisieren oder dort selbst aktiv sind bzw. waren. Diesen Kindern wird „ihre Ideologie schon von klein auf mitgegeben“, wie ein Mitarbeiter von MOBIT (Mobile Beratung in Thüringen – Für Demokratie – gegen Rechtsextremismus) im Interview erläuterte. Im Alltag zeigt sich das etwa dadurch, dass Kinder T-Shirts von extrem rechten Bands wie „Landser“ tragen. Es erscheint nur logisch, dass Kinder in einem Umfeld, das überdurchschnittlich stark menschenfeindliche Positionen vertritt, diese Positionen selbst reproduzieren. Es soll aber keineswegs der Eindruck entstehen, dass die Mehrheit der Jugendlichen am Herrenberg aus familiären Strukturen stammt, die extrem rechts geprägt sind. Vielmehr scheinen solche Familien dort zwar anteilig häufiger vorzukommen als in anderen Stadtvierteln, aber die meisten Jugendlichen wachsen nicht in einem solchen Umfeld auf. Bei vielen dürfte das Elternhaus hingegen unpolitisch oder sogar links geprägt sein. So verzeichnete bspw. auch die Partei „Die Linke“ überdurchschnittlich hohe Wahlergebnisse im Viertel. Auf die Sozialisation Minderjähriger wirkt sich auch aus, dass viele Eltern am Herrenberg sich nicht optimal um ihre Kinder kümmern können, sei es aus zeitlichen, finanziellen oder bildungsbezogenen Gründen. „Dann hast du welche, […] die wirklich in Problemfamilien leben, also wo alleine in der Familie schon so viele Problemlagen bestehen. Die […] bräuchten sehr wahrscheinlich jeden Tag jemanden, der erst mal zur Unterstützung mit da ist“, erklärte ein Sozialarbeiter im Interview. Ein ähnliches Bild zeichnen die Ergebnisse der Kinder- und Jugendbefragung: So sind viele Minderjährige im Erfurter Südosten der Ansicht, dass sich ihre Eltern nicht genug Zeit für sie nehmen. Daneben sind die Erziehungsmethoden dort vergleichsweise autoritär geprägt. Minderjährige werden dort von ihren Eltern häufiger bestraft, geschimpft und geschlagen als Kinder und Jugendliche aus anderen Stadtgebieten. Gerade in diesem Bereich können bereits in der frühen Kindheit Anerkennungsdefizite entstehen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass viele Eltern nicht dazu in der Lage sind, sich kritisch mit rechten Positionen auseinanderzusetzen und diese zu reflektieren. Dadurch bleiben menschenfeindliche Aussagen von Jugendlichen im familiären Umfeld oft unwidersprochen und können sich so sukzessive festsetzen.

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit im schulischen Kontext

Auch an den Schulen im näheren Umfeld der sog. „Volksgemeinschaft“ (VG) kommt es immer wieder zu Gewalt. Schon 2014 gaben bei einer Umfrage unter Schüler*innen im Erfurter Südosten 20% der Befragten an, bereits in der Schule geschlagen worden zu sein. Dies ist mit Abstand der höchste Wert im ganzen Erfurter Stadtgebiet. Hier soll nun aber ein besonderer Fokus auf die Gemeinschaftsschule am Großen Herrenberg (GEM) gelegt werden. Diese liegt nur etwa 150m von den Räumlichkeiten der VG entfernt. Derzeit wird die GEM von ca. 350 Schüler*innen mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund besucht. Etwa 30% davon haben einen Migrationshintergrund, was für die meisten ihrer Mitschüler*innen keine Rolle spielt. Dennoch kommt es immer wieder zu extrem rechten Verhalten an der GEM. So berichteten sowohl Mitarbeitende von Radio F.R.E.I. als auch von der Caritas, dass es in Projekten, die sie an der Schule durchführten, zu rechten Provokationen und Beleidigungen kam. Die Existenz der VG hat und hatte aber auch noch weitreichendere Folgen: Zwischen Januar 2016 und März 2017 kam es zu einer regelrechten Serie von extrem rechten Übergriffen an der Schule. Von diesen waren in erster Linie Kinder mit Migrations- und Fluchthintergrund, aber auch Lehrer*innen und Schulsozialarbeiter*innen betroffen. Die Haupttäter waren zwei männliche Jugendliche aus dem Umfeld der VG. Die Liste aller ihrer Taten würde diesen Artikel sprengen, deshalb hier nur eine kleine Auswahl: wiederholte Sachbeschädigung, rassistische Äußerungen, Bedrohungen, Erpressungen, körperliche Angriffe und Angriffe mit Reizgas. Die Angriffsserie endete mit dem Schulwechsel der beiden. Dieser Wechsel war jedoch nicht erzwungen, sondern die Täter konnten regulär die Schule abschließen. Der damalige Schulsozialarbeiter kritisierte das Krisenmanagement von Seiten der Schule im Hinblick auf die extrem rechten Übergriffe:

„Dass Schüler_innen, die von den Gewalttaten betroffen sind, die Schule verlassen müssen, ist nicht hinnehmbar. Dass Schüler_innen, die Gewalt ausgesetzt waren, jeder Zeit wieder damit rechnen müssen, ist nicht zumutbar. Es ist darüber hinaus auch inakzeptabel, dass den Betroffenen rassistischer Übergriffe vermittelt wird, wenn sie nicht Distanz zu den Gewalttäter_innen halten würden, wären sie selbst für die erlittenen Übergriffe verantwortlich. Hier findet eine Täter- Betroffenen-Umkehr statt“.

Die Schulleitung hätte zudem nicht für die Sicherheit der Schüler*innen, Lehrkräfte und Sozialarbeiter*innen gesorgt. Aus Angst vor weiteren Angriffen blieben Betroffene dem Unterricht fern, einzelne wechselten die Schule oder zogen sogar um. Mindestens ein Betroffener begab sich aufgrund der Übergriffe in therapeutische Behandlung. ezra (Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen) sprach von einem „rassistischen Normalzustand“ an der Schule und erklärte, dass Betroffene kein Vertrauen mehr in ihre Schulleitung hätten. Zudem hätten sich viele aus Angst vor weiteren Repressionen durch die Täter*innen nicht zu den Vorfällen äußern wollen. Anstatt das Problem ernst zu nehmen, „wurden dem Schulsozialarbeiter von seiner Teamleiterin eine verzerrte Sicht durch seine ‚Rassismus-Brille‘ unterstellt und seine fachliche wie persönliche Eignung in Zweifel gezogen.“ Einer der Gewalttäter wurde als Maßnahme in das Team der Streitschlichter*innen an der Schule integriert, während die rassistischen Angriffe seinerseits fortdauerten. Auch MOBIT hält ein anderes Handeln von Seiten der Schule in solchen Fällen für elementar: „[D]ie sind konfrontiert mit den Jugendlichen, die Inhalte aus der ‚Volksgemeinschaft‘ mit in die Schule tragen, und möglicherweise da das immer weiter und weiter tun, wenn ihnen da auch nicht auf irgendeiner Ebene Widerspruch entgegen gesetzt wird“. Statt die Vorfälle öffentlich zu machen, sich Hilfe zu holen und den Übergriffen Konsequenzen folgen zu lassen, verschwiegen die meisten involvierten Akteur*innen das Problem oder relativierten es, sei es die Schulleitung, der Trägerverein der Schulsozialarbeit, das Schulamt oder das Bildungsministerium. Nicht die Gewalttäter mussten im schulischen Umfeld ernsthafte Konsequenzen fürchten, sondern diejenigen, die auf das strukturelle Problem aufmerksam machten. So wurde etwa dem Schulsozialarbeiter gekündigt, nachdem er einen Brief an die Schulleitung geschrieben hatte, in dem er auf die Probleme aufmerksam machte. Diese Kündigung war rechtswidrig, wie ein Gericht später feststellte. In diesem Zusammenhang erscheint es wenig verwunderlich, dass betroffene Schüler*innen kein Vertrauen mehr in ihre Schulleitung hatten. Inzwischen scheint die Schule zumindest etwas aus den Vorfällen gelernt zu haben. Es gibt immer wieder Projekttage zur Verhinderung von Gewalt und Mobbing. Außerdem ist in den fünften und sechsten Klassen „soziales Lernen“ regelmäßig Teil des Unterrichts. Dabei werde ein besonderer Wert auf Diversität und Vielfalt gelegt. Dies bedeutet aber nicht, dass Rassismus oder anderen Formen von Diskriminierung in der Schüler*innenschaft nicht mehr vorkommen. Ein Sozialarbeiter berichtet von Problemen mit Gewalt sowie vielfältigem Alltagsrassismus. Dieser zeige sich etwa im Tragen von rechter Szene- Kleidung, Ausgrenzung von Mitschüler*innen und durch Äußerungen, aber auch im Verteilen von Flyern und Stickern für die „Volksgemeinschaft“ in der Schule. Bei Interventionen gegen rechtes Gedankengut stößt die Schulsozialarbeit schnell an ihre Grenzen, da sie nur mit Kindern und Jugendlichen zusammenarbeiten können, die das Angebot der Hilfe durch die Schulsozialarbeit annehmen wollen. Dies ist – wie sich auch am Beispiel der zwei Intensivtäter zeigen lässt – oft nicht der Fall. Gleichzeitig beschäftigen sich viele Lehrer*innen zu wenig mit der Thematik „extreme Rechte“ und erkennen bspw. rechte Codes und Symbolik nicht. Dafür werden zwar inzwischen Weiterbildungsmaßnahmen mit MOBIT durchgeführt. Dennoch ist einigen Lehrkräften die Problematik noch nicht bewusst genug ist, sodass menschenfeindliche Äußerungen häufig immer noch unwidersprochen bleiben. Dies führt dazu, dass sie eine gewisse Normalität genießen und sich an der Schule weiter ausbreiten können. Für Kinder und Jugendliche, die schon Opfer extrem rechter Übergriffe geworden oder potentielle Opfer sind, ist dies ein unzumutbarer Zustand. Dahingehend ist es zwar positiv, dass die Schule inzwischen Maßnahmen ergriffen hat, es muss sich aber erst noch zeigen, ob sie auch dazu geeignet sind, das Problem an der Schule nachhaltig zu bekämpfen.

Peer-Zusammenhänge

Zuletzt sollen nun noch die Kontakte zu Gleichaltrigen untersucht werden. Bisherige Studien zeigten, dass Minderjährige insbesondere dann anfällig für die rechte Szene sind, wenn sie sozial isoliert sind. Am Herrenberg bestätigt sich das nicht. Stattdessen sind die meisten in Freundeskreise eingebunden. Viele pflegen Freundschaften zu älteren Jugendlichen oder Erwachsenen, über die auch häufig der Erstkontakt zur rechten Szene zustande kommt. Jugendliche, die schon mal in der „Volksgemeinschaft“ waren, erzählen anderen von den dortigen Angeboten und motivieren sie dadurch, dorthin mitzukommen. Ob Jugendliche den Kontakt zum extrem rechten Spektrum aufnehmen oder stattdessen Angebote der städtischen Jugendarbeit besuchen, ist folglich in hohem Maße davon abhängig, wo ihre Freund*innen hingehen. Diese These stützen auch die Ergebnisse der Erfurter Kinder- und Jugendbefragung von 2014. Demnach ist es 72% der Befragten im Südosten bei Freizeitangeboten wichtig, dass sie dort ihre Freund*innen treffen können. Wie schon angesprochen, besuchen viele Schüler*innen mit Migrationshintergrund die GEM. Die Jugendlichen bewegen sich folglich in heterogenen Klassenstrukturen und kommen dadurch automatisch mit Migrant*innen in Kontakt. Durch Konflikte mit migrantischen Peers in der Jugend oder Kindheit können rassistische Denkstrukturen und Einstellungen gebildet oder gefestigt werden, indem das Verhalten Einzelner auf die Allgemeinheit projiziert wird. Dennoch gelten diese Zuschreibungen nicht für alle migrantischen Jugendlichen. So sind etwa die Freundschaften von Heranwachsenden, die die VG besuchen, trotz der rassistischen Ideologie der VG keineswegs nur auf Weiße oder deutsche Jugendliche beschränkt. Dieser Widerspruch zeigt sich selbst bei Jugendlichen, die schon längere Zeit im extrem rechten Umfeld aktiv sind. Dies deutet daraufhin, dass sie nicht prinzipiell extrem rechte Einstellungen vertreten und noch nicht ideologisch gefestigt sind. So betonten auch die drei interviewten Expert*innen (ein Sozialarbeiter, ein Mitarbeiter von MOBIT und eine lokale zivilgesellschaftliche Akteurin), dass viele Jugendliche Meinungen, die ihnen von anderen vorgelebt wurden, zunächst nur „nachleben“ und erst im Laufe der Zeit internalisieren. Das wird auch noch im dritten Teil der Serie behandelt werden. Dieser wird sich mit der „Volksgemeinschaft“ und der Attraktivität ihrer Angebote für Jugendliche beschäftigen.

Weiterführende Links:

Dossier zu den Vorkommnissen in der GEM
Stellungnahme des Jugendamts Erfurt
Erfurter Kinder- und Jugendbefragung

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