Kaum ist die Kulturkarawane in ihrer Oase angekommen, wird sie sich schlagartig wieder der Wüste bewusst. Ständig eckt die freie Kulturszene an, für die die Kulturkarawane dieses Jahr zum ersten Mal in Erfurt auf die Straßen ging: Anwohnende gegen Veranstaltende, Stadtverwaltung gegen Veranstaltende, Anwohnende gegen Stadtverwaltung. Die freie Kulturszene fordert mehr Freiheit, mehr Raum, mehr Budget aus der Haushaltskasse, mehr Anerkennung – gerade gegenüber der städtischen Kultur.
Eine Herzensangelegenheit für das UNGLEICH magazin. Deshalb waren wir neugierig, welchen Blick und welche Meinung die WählerInneninitiative der „Mehrwertstadt“ auf die Erfurter Kultur hat. Denn die „Mehrwertstadt“ ist ein politischer Akteur, der sich aus Erfurtern in Erfurt gegründet hat und für die Interessen der Hauptstadtbürger einsteht. Wir trafen sie zum Gespräch.
Rivalität zwischen Hoch- und Subkultur überwinden
„Was mir nach der Kulturkarawane bewusst geworden ist, war der Eindruck, dass man die freie Kulturszene gegen die städtische auszuspielen versucht,“ reflektiert Jan-Phillip Niediek, Mitglied der WählerInneninitiative der „Mehrwertstadt“. Gleichzeitig engagiert er sich selbst soziokulturell im Verein „Snokksen“, der das Erfurter „Retronom“ leitet. Genügend Erfahrung hat er in Erfurt also mit dem Tauziehen, das sich Kulturschaffende, Stadtverwaltung und Anwohnende regelmäßig untereinander liefern. Das soll und kann kein Dauerzustand bleiben. Für die WählerInneninitiative „Mehrwertstadt“ ist es deshalb zum einen ein Anliegen, dass die Erfurter Hoch- und Subkultur in Kontakt treten. Dazu Anna Allstädt, ebenfalls Mitglied der Mehrwertstadt: „Denn das schlechteste, was unserer gesamten Erfurter Kulturszene passieren kann, wäre, dass man sich einander ausspielen lässt und eine Rivalität zwischen beiden Szenen entsteht.“
Zum anderen ist der Frieden im Quartier wichtig: „Auch, wenn Kultur gemacht wird, muss man schauen, dass man Leuten damit nicht zu hart auf die Füße tritt. Der Austausch zwischen Kulturschaffenden und Anwohnern soll sich verbessern, um die Einsicht auf beiden Seiten besser zu generieren“, wünscht sich Jan-Phillip Niediek.
Das Erfurter Kulturleben verharrt in einer Schieflage und das Gefälle kippt sicher nicht zugunsten der freien Kulturschaffenden. Aber jeder von uns schaut aus einer anderen Perspektive darauf und definiert Kultur anders: „Kultur sind nicht nur Partys. Kultur ist nicht nur Soziokultur“, meint Sebastian Perdelwitz von der WählerInneninitiative „Mehrwertstadt“ gegenüber dem Ungleich-Magazin. „Es bedeutet auch Stadtteilkultur.“
Kultur bei Stadtgestaltung einberechnen
Sind unsere Stadtteile lebendig? Gibt es die heimeliche Kneipe in der nächsten Straße, eine Kita an der nächsten Ecke, einen Park für die Nachbarschaft? Nach der „Mehrwertstadt“ planten die Stadt- und Raumgestaltenden in Erfurt bei neuen Wohnquartieren zu wenige Begegnungsorte ein. „Wir müssen die Kultur zurück in die Quartiere bringen“, bekräftigt Jan-Phillip Niediek.
Für die „Mehrwertstadt“ braucht es in Erfurt für die Stadtplanung eine Kulturquote. Also überall, wo Wohnraum entsteht, soll immer Platz für kulturelle Freiräume mitgedacht werden. „Das heißt, dass günstiger Mietraum für Kulturschaffende vorbehalten wird, wo sie Ausstellungen oder Veranstaltungen stattfinden lassen können“, erklärt Sebastian Perdelwitz. Das geht. Das ist machbar, siehe Freiburg: Hier gibt es seit 2017 das Konzept der „Urbanen Gebiete“. Im Erdgeschoss von neuen Gebäuden dürfen die Räumlichkeiten an der Straßenseite nicht als Wohnraum benutzt werden, Vorrang haben hier Gewerbe, soziale oder kulturelle Einrichtungen. Das würde auch Erfurt ganz gut tun, meint Sebastian Perdelwitz: „In Erfurt muss man darum kämpfen, dass, wenn ein Geschäft schließt, es nicht unverzüglich zum Wohnraum gemacht wird.“
Die Magdeburger Allee ist einen Kilometer kürzer als der Ku‘damm in Berlin und bietet auch um 1000 Meter weniger Erlebnis. Erfurts längste Einkaufsstraße ist über die Jahre eingeschlafen. Steffen Präger von der „Mehrwertstadt“ würde ihr gern etwas mehr Adrenalin durch Pop-Up-Stores einstreuen. Junge Konzepte könnten ausprobiert, später vielleicht etabliert und die Straße zwischen Altstadt und Ilvergehoven belebter werden.
Es braucht ein Umdenken in der Stadtverwaltung.
Für solche Umsetzungen braucht der Stadtrat einen heißen Draht zur Verwaltung. Für die „Mehrwertstadt“ sollte die Erfurter Stadtverwaltung transparenter arbeiten, gerade, wenn es um Genehmigungen geht, und zwar für jedes Aufkeimen von Kultur. Wenn die Stadtverwaltung von BürgerInnen gemachte Kultur mehr als Potenzial denn als Störfaktor für die Stadt begreifen würde, dann würde die Magdeburger Allee, würde die Innenstadt, würden verdorrte Quartiere anfangen, mehr Früchte zu tragen.