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Wer Erfurt im Innersten zusammenhält – Boten des sozialen Kitts

Er kennt dich. Du kennst ihn nicht.

Er weiß, wo du wohnst. Du weißt es nicht.

Er weiß, ob du in München falschgeparkt hast. Du weißt noch nicht einmal, ob er einen Führerschein hat.

Er weiß über deinen Beziehungsstatus, deinen Arbeitsplatz, deine Krankenversicherung, deinen Lieblingsfußballverein und er weiß zu großer Sicherheit auch, wo du bei deiner nächsten (eigentlich geheimen) Wahl dein Kreuzchen ganz sicher nicht setzen wirst. Du weißt es über ihn nicht.

Er weiß, dass du eine Freundin namens Linda hast. Sie macht zurzeit Urlaub in Kroatien. In Istrien. Sie macht dort einen Segeltörn. Das Wetter ist schön. Sie isst am liebsten die Eissorte Stracciatella im Eiscafé am Hafen. Sie kommt in einer Woche zurück und möchte Dich dann besuchen kommen. Du weißt dagegen nicht einmal, ob dieser unheimliche Gegenpart ein Mann oder eine Frau ist.

In Zeiten von Datenklau, Geheimdiensten und Hackern wirkt die Lösung dieses Rätsels recht beschaulich: Dein Erfurter Briefträger.

Die Datenkrake von nebenan.

Jeder Bürger der Stadt sieht die gelben Schiebekarren, Fahrräder und VW-Busse der Deutschen Post im alltäglichen Leben, nimmt sie jedoch als omnipräsenten Bestandteil des Straßenbildes nicht mehr aktiv wahr. Spätestens nach der Leerung deines Briefkastens ist Dir gewiss: Der Postbote war wieder im Haus. Nie würde man durch das Einlangen eines einzigen Briefes auf die Idee kommen, dass der Briefträger umfassendes Wissen über jegliche Einzelpersonen erlangt. Doch führt man sich vor Augen, dass der Postbedienstete jeden deiner Briefe in der letzten Woche, im letzten Monat, ja in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur in deinen Briefkasten geworfen, sondern einige Male am Tag vorsortiert hat, wird dem Einzelnen bewusst:

Er weiß alles.

Über jeden Erfurter.

Ohne jegliche technische Überwachung und Vorratsdatenspeicherungsgesetze könnte er problemlos deine Lebensrealität schildern.

Diese immense Informationsakkumulation über einzelne Erfurter Bürger über Jahre und Jahrzehnte scheint auf den ersten Blick unwahrscheinlich, doch mit dem Wissen, dass das Erfurter Stadtgebiet in knapp achtzig Distrikte unterteilt ist, die den einzelnen Postboten als sogenannte „Stammbezirke“ zugewiesen sind, in denen diese dann bis zu ihrer Verrentung über Dutzende Jahre hinweg arbeiten, macht klar: Dieser Deinem Haus zugeordnete Postbote (im Jargon: „Stammzusteller“) begleitet dich im Stillen über einen weitreichenden Lebensabschnitt.

Der Stammzusteller kann Dir – selbst wenn du in einem Mehrparteienhaus oder einer Mietskaserne wohnst – einen Namen von den Briefkästen zuordnen. Dies funktioniert in der Regel über das persönliche Übergeben von Päckchen und Einschreiben sowie das Ausschlussverfahren.

Eine Sandy Sommer sieht anders aus als eine Hannelore Hallensleben. Ein Erhardt Wahlmann sieht anders aus als ein Oleg Pulkin. Alleine durch die einmalige Emergenz einer Person in der Haustür ergibt sich für den Postboten ein Profil. Tag für Tag eignet sich der Briefträger neue Profile an. Bis er irgendwann jeden Ilversgehofener, Herrenberger oder Altstädter gesehen hat. Eben je nachdem, wo sein Stammbezirk liegt. Machen wir ein plastisches Beispiel:

Oleg erhält eine russische Tageszeitung. Er wohnte lange mit seiner Frau Anne in Arnstadt. Sie hatten zwei kleine Kinder, über die sich die Nachbarn (Ingo und Simon, Mittzwanziger, schwules Pärchen aus Magdeburg hergezogen, Simon arbeitet bei einer IT-Firma, beide sind beim ADAC angemeldet und bei der TechnikerKrankenkasse versichert) immer abfällig mit „Die kleinen Putins heulen wieder. Schrecklich!“ äußerten. Olegs Frau Anne meldete sich im Oktober 2014 um und zog nach Berlin. Bei Paketübergaben sieht man seit zwei Jahren dafür immer wieder eine blonde Frau. Diese zieht im Januar 2018 bei Oleg ein, denn plötzlich steht auch der Name Vera Lehmann am Briefkasten. Ein weiteres Jahr später beschweren sich die gleichen Nachbarn über die Geräusche des Neugeborenen Pavel Pulkin.

Simon hat inzwischen keinen VW Golf mehr, sondern fährt einen blauen Hyundai i30 und ist der SPD beigetreten. Er war für vier Wochen auf einem IT-Fortbildungskurs in Atlanta und hat Ingo eine Postkarte geschrieben. Ingo erhält seit Neuestem die Zeitschrift ‘Der Spiegel’ und hat sich für ein Studium an der staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt eingeschrieben. Darüber hinaus erhält er über Monate hinweg Post des Amtsgerichtes Eisenach mit einschlägigem Aktenzeichen. Drei Wochen später wird er von Polizisten abgeführt, als der Postbote über die Kreuzung vor dem Haus radelt.

Sandy erhält regelmäßig Liebesbriefe von einem Andreasvorstädter. Nach wenigen Wochen ist sie laut dem dortigen Stammbezirk-Zusteller bei einem zwanzig Jahre älteren Jakob Weinstein eingezogen. Zwei Jahre später bekommt auch Oleg eine Einladung zu der Hochzeitsfeier im Kaisersaal. Die Flitterwochen gingen laut Postkarte wohl nach Mauritius. Danach endet der Kontakt.

Hannelore ist bereits weit in den Siebzigern und wird zu einer regelmäßigen Anlaufstelle für den Postboten, der über ihre permanente Anwesenheit in der Parterre-Wohnung aufgrund offensichtlicher Gehbehinderung weiß, weswegen er gerne alle Päckchen für die Nachbarn bei ihr abgibt. Da Hannelores Mann bereits vor längerer Zeit verstorben ist und die mobile Altenpflege nur zwei Mal wöchentlich vorbeikommt, sieht der Postbote währenddessen bei ihr nach dem Rechten. Für Hannelore ist das kurze Gespräch über das Wetter, ihre Katze und die Qualität der jeden Morgen, vom befreundeten Bäcker in einer Tüte an die Haustürklinke gehängten Brötchen, ein tägliches Highlight, gibt ihr doch sonst in ihrem Leben nur wenig Halt.

Dieser kurze Abriss erzählt die fiktive Geschichte von nur einem Erfurter Haus, in dem hinter der Fassade Lebensglück und Tragödien ihren Lauf nehmen. Der Postbote nimmt über seinen Beruf unabsichtlich daran teil, wird er doch über die Briefe und die Gespräche Teil einer intimen Lebenswelt, die nur innerhalb der Häuser stattfindet. Durch das Miterleben der Schicksale über Jahrzehnte hinweg sowie seine tägliche Präsenz in den Häusern der Stadt kennt jeder Briefträger mehr Menschen und Lebensrealitäten als jeder andere Bürger. Nicht der Stadtteilbeauftragte oder der Bürgermeister hat derartige Einblicke in gesellschaftliche Mikroorganismen und Parallelgesellschaften wie die Postboten, die das Glück und das Leid aller Erfurter unmittelbarer als jeder Stadtoffizielle miterleben.

Gleichzeitig ist der Postbote auch über Erfurts Grenzen hinaus, insbesondere für hilfebedürftige und alte oder alleinstehende Personen, in vielen Phasen die einzige Bezugsperson in einer, speziell in urbanen Regionen zunehmend anonymeren Gesellschaft, in der das Stadthaus kein Ort des gemeinsamen Zusammenlebens, des Aufeinander-Achtgebens ist, sondern eine permanente Segregation der individuell-privaten Sphären dominiert. Die Kontaktzonen zwischen Bewohnern konsistieren – wenn überhaupt existent – aus niemals herzlich werdenden Danksagungen für Paketannahmen, während eigener Abwesenheit, peinlich-hektischen Begrüßungen im Treppenhaus und plötzliche, soziale Offensivaktionen negativer Art im Rahmen von Beschwerden bei Ruhestörungen. Sofern das persönliche Wohl nicht gefährdet wird, wagt sich kein Hausbewohner aus seinem gemütlichen sozialaversen Nistkasten heraus, auch, weil der sozial Passive durch sein Nicht-Agieren mit dem Leid seines Nachbarn nicht konfrontiert werden kann.

Der Postbote überschreitet – im Sinne des Wortes – die Schwelle hinein in diese ansonsten abgegrenzte Privatsphäre der sozialen Exklusion berufsbedingt und weiß über private Angelegenheiten und Beziehungsgeflechte, die für andere unsichtbar bleiben oder bleiben sollen.

Er kommt täglich, sieht nach nur für ihn augenscheinlichen Veränderungen in der Lebensumwelt des einzelnen Erfurtern, weiß über die körperlichen und seelischen Beschwerden des einzelnen Stadtbewohners und doch bleibt ihm aufgrund tausender auszutragender Sendungen keine Zeit, sich mit dem einzelnen Leidenden zu beschäftigen. Doch die Gewissheit bleibt:

Er kommt morgen wieder.

Und nicht den Hausbewohnern aus unserem Beispiel, also Oleg, Sandy, Ingo oder Simon, sondern dem Postboten – und nur dem Postboten – würde auffallen, dass die betagte Hannelore an diesem einen Morgen die Brötchentüte des Bäcker-Services nicht hereingeholt hat…

P.S.: Dieser Artikel handelte von einer fiktiven Geschichte mithilfe derer die soziale Wichtigkeit eines Briefträgers, welcher in seinem Erfurter Bezirk Informationen über die Bewohner berufsbedingt aufsammelt. Diese Informationsfülle über Einzelne entsteht durch langjährige Gleichartigkeit seiner Arbeit und aus Interesse an den Mitmenschen.
Gleichzeitig verdeutlicht dies in Zeiten der Digitalisierung inwieweit der Einzelne durch seine Handlungen im Internet zu einem transparenten Akteur wird. Während der Postbote trotz menschlicher Eigenheiten wie Vergesslichkeit und Desinteresse einen immensen Wissensschatz an Informationen über den sozialen Status, Beziehungen und Reichtum unabsichtlich abschöpft, ist durch beabsichtigte, maschinisierte Auswertungen der Betreiber von sozialen Plattformen ein Vielfaches  über den Einzelnen herauszufinden und auf ewige Zeit gespeichert.   

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