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Auf eine Spezi mit: Renate Monteiro

Leicht verkatert, etwas müde und mit zwei Spezis im Rucksack fahre ich mit dem Rad zum Anger: Ich bin auf dem Weg zu der kleinen älteren Dame, die in dem Holzhüttchen der Zoo-Lotterie sitzt und Lose verkauft. Mit ihr werde ich mein zweites „Auf eine Spezi mit…“ – Gespräch führen.

Als ich auf der Höhe des Anger 1 bin, steige ich vom Fahrrad ab, denn mein gut geschultes Auge hat mich den Polizeiwagen vor‘m Tegut früh genug erspähen lassen. Das Geld will ich mir lieber sparen, darum schiebe ich die letzten Meter. Das Fenster des Los-Häuschens ist geöffnet. Gut, sie ist da, denn gestern hatte es zu, womöglich wegen des schlechten Wetters.

Ich gehe etwas in die Knie, um die Dame sehen zu können, erkläre kurz noch einmal wer ich bin, denn man weiß ja nie, ob das eigene Gesicht anderen Menschen in Erinnerung geblieben ist. Mit „Renate Monteiro.“ stellt sie sich vor, würde sich auch freuen, und nein, Spezi kennt sie gar nicht und probiert sie heute zum ersten Mal. Ich komme mir langsam wie eine Spezi-Missionarin vor, die die Menschen in ihrer naher Umgebung durch den heiligen Tropfen erhellt. „Mal gucken wie‘s schmeckt!“, wir stoßen an, „Hmm, das schmeckt ganz angenehm!“. Schnell fällt mir auf, dass Renate gerne und oft „Ich sag ja immer“ oder „Sag ich“ benutzt, allerdings ausgesprochen wie „Sach ich“- es klingt irgendwie gemütlich.

Renate ist in Erfurt geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen, hat lange für eine Kindereinrichtung als Köchin gearbeitet, ist riesiger Bob Marley Fan und selbsternannte „Quatschtasse“. Vor neun Jahren wurde sie durch eine Zeitungsannonce auf den Job im Los-Häuschen aufmerksam und sitzt seitdem jede zweite Woche auf dem Anger. Ehrenamtlich mache sie das, für die Stunden die sie sitzt, könnte der Zoo sie gar nicht bezahlen.

„Sie haben bestimmt viel über Erfurt zu erzählen!“, behaupte ich. Sie sagt, es habe sich sehr viel verändert, überwiegend zum Vorteil. Das sei schon gar nicht so verkehrt, wobei ihr einige Sachen nicht so gut gefallen würden. Ich frage nach, was sie denn stören würde – „Das sind unsere Radfahrer am Anger!“ – ich muss ein wenig lachen, vielleicht auch etwas aus Erleichterung, da ich doch etwas anderes erwartet hätte. „Ich sach ja immer, die werden hier stillschweigend geduldet. Da könnte ich mich jeden Tag drüber aufregen! Alle regen sich immer über unsere Ausländer auf, aber die Radfahrer! Da fährt unsere Polizei über‘n Anger, da fahren die Radfahrer vorbei, und dann sind sie eben vorbeigefahren.“ Für unsere Zeitungsfrauen hätte sie allerdings Verständnis, die müssten ja dienstmäßig und unter Druck ihren Job erledigen und auch für mich, als ich zugebe, dass ich des Öfteren auch nicht absteige. „Da sehe ich das schon ein bisschen ein, ich sach ja immer, man soll nicht alles was negativ ist, so ganz negativ verallgemeinern. An jeder negativen und an jeder positiven Sache gibt es immer noch so ein kleines Schwänzchen, wo man sagt, naja, das kann und das würde und das täte, aber so grundsätzlich, ich sitze gerne auf dem Anger. Man erlebt viel, man hört viel, man sieht viel.“ Sie könne den ganzen Tag beobachten, zuhause gucke sie nur ihre vier Wände an und hier wenigstens die Leute, die vorbeilaufen. Oft benutzt sie das Wort „unsere“, also unsere Fahrradfahrer, unsere Banker, unser Dom, unser Anger und so weiter. Das gefällt mir irgendwie, es hat etwas, was ich nicht so genau beschreiben kann. Irgendwie etwas Einbeziehendes, etwas Teilhabendes oder auch Familiäres. Sie scheint sich mit jeglichen Gruppen und Menschen zu identifizieren und nicht abzugrenzen. Jeder Mensch dieser Stadt Erfurt, in der sie schon immer lebt, scheint ein Teil von ihr selbst zu sein.

Eine Kundin kommt. Renate sagt, „Sie suchen und ich schneide die Lose.“ Als die Kundin ihr die Lose zurückgibt, da sie nichts gewonnen hat, kommt ein weiterer Spruch, den ich die nächste Stunde im Gespräch mit Renate noch sehr oft hören werde: „Nichts? Na, dann freuen sich aber unsere Löwenbabys.“ Sie erklärt mir, dass mit dem Erlös der Lose dem Zoo geholfen wird, weitere Investitionen zu tätigen, sei es, um Gehege auszubauen oder neue Tiere anzuschaffen. Selbst würde sie aber nicht häufig in den Zoo gehen und Lose ziehen mag sie auch nicht, denn sie habe partout kein Glück gehabt und hätte noch nie etwas gewonnen.

Drei junge Männer kommen an den Stand und fragen in gebrochenem Deutsch, was sie denn hier verkaufe. Renate erklärt es ihnen geduldig und langsam, die Jungs scheinen aufgeregt zu sein und gespannt, ob sie etwas gewinnen. Sie diskutieren welches Los sie nehmen sollen, entscheiden sich nochmal um. „Leider kein Gewinn“, steht auf dem Los, sie lachen und ziehen wieder weiter. Sie erklärt mir, dass öfters Asylbewerber vorbeikommen und Lose kaufen. Die meisten wollen nur wissen, was sie denn eigentlich verkauft. Aber ihr wäre auch noch nie einer dumm gekommen, „deshalb sach ich, das Theater was sie hier immer machen, mit der Angst auf dem Anger, ‘Ach der Anger ist so gefährlich’, also ich bin der Meinung, der Anger ist nicht gefährlicher als jeder andere Ort in Erfurt.“ Das Theater mit der AfD könne sie auch nicht nachvollziehen: „Wer braucht die AfD? Oder diese neue Partei, der Dritte Weg. Wer braucht solche Leute? Also ich brauche sie nicht! Und, sache, Mensch ist Mensch. Das ist einfach so, da kann man nichts machen.“

Diese Einstellung rührt vielleicht auch daher, dass sie 17 Jahre mit einem Mann aus Mosambik zusammen war und die beiden drei Kinder zusammen bekamen, die jetzt schon erwachsen sind und eigene Kinder haben. Dadurch musste sie sich selbst mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen und auch mit der Bürokratie, die es Migranten nicht so einfach macht in Deutschland bleiben zu können. Nur einmal gab es in Weimar vor der Wende einen schwereren rassistischen Vorfall. Sonst hatten die beiden, im Gegensatz zu einigen Bekannten, immer Glück. Am Ende haben sie sich leider nach 17 Jahren Beziehung, davon sieben Jahre Ehe, scheiden lassen, denn Renate wollte die Nummer Eins sein und auch die einzige Nummer Eins bleiben. „Und wie Männer so sind, man kann ja da mal gucken und dort mal gucken. Und das hab‘ ich nicht respektiert.“ Nie hatte sie sich in all den Jahren nach anderen Männern umgesehen, auch wenn sie jetzt zu gibt, dass sie heute noch gerne hübschen Männer nachschaut, wenn diese an ihrem Fensterchen vorbeilaufen: „Sache, das ist schon was Erfrischendes! Zum größten Teil könnten es meine Kinder sein, manche sogar meine Enkelkinder. Aber das ist doch was Schönes.“ 

Sie erklärt mir, dass es im Alter sehr wichtig ist, ab und zu auf irgendeine Weise wahrgenommen zu werden. Es gibt manchmal Tage, an denen sie eine Weile nicht gefordert oder gebraucht wird. Sie fühlt sich nutzlos. Das sei so deprimierend, dass sie sich dann erstmal wieder Kraft tanken muss. Und die kann sie aus dem Anger schöpfen, vor allem wenn wieder richtig was los ist: „Ich bekomm alles mit! Razzia, Polizeiaufgebot, alles.“

Ich spicke auf den Zettel mit meinen vorbereiteten Fragen, stelle aber fest, dass es einfach auch schön ist Renate zuzuhören und sie erzählen zu lassen. „Ja das ist so, wenn man allein ist, hätte ich früher auch nie gedacht, aber wenn man dann allein ist, man fängt an, wenn man dann jemanden hat zum Quatschen – ich bin sowieso eine olle Quatschtasse, sach ich, ich unterhalte mich gerne.“ Renate kann es sich nicht vorstellen, wie viele andere ältere Leute nur zuhause vor dem Fernseher zu sitzen. Sie braucht Menschen um sich herum, sie braucht den Trubel. Auch umgibt sie sich sehr gerne mit Jugendlichen, „mit denen man auch mal bisschen diskutieren und debattieren kann, als wenn man so alte Weiber hat, und jede nur über die vergangene Zeit redet.“ Sie interessiert sich für Politik, auch wenn sie weiß, dass sie mit ihrer einzelnen Stimme nicht viel ändern kann. Ihr würde niemals einfallen, nicht wählen zu gehen.

Kunden kommen und gehen. Bis jetzt hatte noch niemand das Glück, den Hauptgewinn zu ziehen. Alle werden mit „Dann freuen sich unsere Erdmännchen“ oder „Dann freuen sich unsere Löwenbabys“ vertröstet, keiner scheint wirklich enttäuscht zu sein, am Ende ist es eine kleine Spende für den Zoo.

Ich spreche sie auch auf die DDR an, denn wenn ich schon mal mit einer waschechten Erfurterin rede, dann muss ich das auch ausnutzen. „Das ist schon lange her. Zu DDR-Zeiten hab‘ ich mich wenig für Politik interessiert. Wo die Wende gewesen ist, war ich zuhause und habe geschlafen. Das hab‘ ich dann erst am nächsten Tag auf Arbeit mitgekriegt.“ Damals hatte sie sich wenig für Politik interessiert, da sie durch den Staat als kinderreiche Mutter sehr gut durch Vergünstigungen abgesichert war. Doch sie erinnert sich auch daran, dass sie in der Schule so einige Dinge lernen musste, die so heute nicht mehr auf dem Lehrplan stehen könnten.

„Was ist das Schönste, was sie hier erlebt haben?“, frage ich Renate. „Das Schönste ist eigentlich, wenn die Leute höflich und nett sind! Das gibt einem sehr viel.“, antwortet sie. „Und was schätzen sie am meisten an Erfurt? Was macht Erfurt für sie aus?“ – „Ach Erfurt, das ist meine Heimatstadt! Ich würde nie von Erfurt weggehen. Unser schöner Dom, unsere ega, unser Zoopark. Wir haben sehr schöne Ecken in Erfurt, unsere Krämerbrücke. Wenn ich mal zwei drei Tage von Erfurt weg bin, bin ich schon wieder froh, wenn ich wieder unseren Dom sehe.“

„Und was würden sie sich für die Zukunft wünschen? Für sich selbst und auch für die Stadt?“ – „Für mich selbst: Viel, viel Gesundheit. Für unsere Stadt: dass wir nicht so rechtsradikal werden wie wir es in einigen Städten beobachten können, dass die Menschen friedlicher, oder sagen wir mal, humaner mit einander umgehen. Dass der eine den anderen respektieren und akzeptieren kann. Dass meine Enkelkinder in geordneten Verhältnissen groß werden! Dass wir friedlich bleiben, dass Erfurt friedlich bleibt. So lange wie ich lebe.“

Kein Gewinn für Helen, aber für die Erdmännchen

„Amen“, denke ich mir, das wünsche ich mir auch sehr für Renate und für Erfurt. Bevor ich gehe möchte ich auch noch ein Los ziehen. „Leider kein Gewinn“ lese ich und schon sagt Renate: „Ach da freuen sich unsere kleinen Erdmännchen!“, obwohl ich gerade eine Stunde lang neben ihr gestanden habe und eigentlich keine normale Kundin bin. Ich bedanke mich für das Gespräch und verabschiede mich, würde gerne noch etwas länger bleiben und habe ein leicht schlechtes Gewissen, dass ich jetzt gehen muss.

Ich lege euch ans Herz, das nächste Mal beim Anger vom Fahrrad abzusteigen und brav zu schieben, damit sich Renate nicht so über unsere Fahrradfahrer aufregen muss. Vielleich habt ihr ja auch Zeit euch ein Los zu kaufen und ein kleines Pläuschchen zu halten. Denn da freuen sich unsere kleinen Löwenbabys und Renate ganz bestimmt!

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