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Wir Kinder vom Boyneburgufer

Wer in Erfurt wohnt, kennt ihn. Den Platz am Talknoten, der nie so richtig ein Platz geworden ist. Stattdessen treffen hier verschiedene Straßen auf einander, unter dem Platz fließt die Gera und obendrüber gibt es mehr als genug Straßenbahn- und Autoverkehr.  Wenn man die Kreuzung nicht nur kennt, sondern auch hier wohnt, dann weiß man, dass hier rund um die Uhr viel los ist. Ganz entgegen des alten Klischees, dass in Erfurt spätestens um zehn Uhr die Bürgersteige hochgeklappt werden, geht hier die Party erst richtig los, vor allem im Sommer. Hier treffen sich Jung und Alt, Vorbeigehende und Anwohnende, Frisörin, Dönerladenbesitzer und E-Shisha-Verkäufer. Wer nicht hier wohnt oder den scheinbaren Platz gar nicht kennt, der braucht vielleicht eine kleine Einführung. Und diesen Einblick wollen wir euch heute – in Form eines Artikels – geben. In diesem Bericht wird ein Abend am Fenster beschrieben, wie es ihn bei uns schon einige Male gegeben hat. Alle beschriebenen Ereignisse sind so, oder so ähnlich passiert, ob ihr’s glaubt oder nicht:

19.00 Uhr:

Ausgestattet mit Spezi und Bier vom Späti gegenüber öffnen wir die Fenster zum Boyneburgufer – der Abend kann beginnen. Wir befinden uns im 4. Stock und heute ist ein heißer Sommertag. Die Luft drückt und das sich Bewegen ist anstrengend. Das merkt man auch den Vorbeilaufenden an. Der Lärm schallt hoch von der Straße, weshalb man sich selbst in einer Art sicheren Hafen befindet, denn egal wie laut man sich unterhält, oder wie laut man die Musik dreht, die Geräusche kommen unten nicht an. Insgesamt schauen sehr wenig Menschen nach oben. Nichts weiter passiert.

The most beautiful Ufer – Boyneburg
19.27 Uhr:

Das Thermometer übersteigt immer noch die 30 Grad-Marke. Wir haben eine Wasserpistole geholt und angefangen, die Leute unten nass zu spritzen (nur ganz wenig). Die meisten freuen sich, glauben wir.

19.46 Uhr:

Die Kreuzung füllt sich langsam und auch andere Menschen an den anderen Häusern direkt an der Straße haben sich die guten Plätze an ihren Fenstern gesichert. Wir grüßen uns, man kennt sich natürlich von früheren Fenster-Abenden in den letzten Tagen. Weil uns die Sicherheit auf den Straßen sehr wichtig ist und wir hitzegedrückte Stimmung etwas aufheizen wollen, haben wir ein Megafon geholt und rufen seit ein paar Minuten Dinge wie „Bitte langsamer fahren“ „Dynamo“ und „Licht an“ runter auf die Straße – funktioniert so mittel. Gegenüber sammeln sich junge Menschen auf der Brücke, zum Cornern, nachdem sie sich beim Späti mit Bier versorgt haben. Die werden von der älteren Generation die an den Fenstern sitzt kritisch beäugt, aber geduldet. Wenigstens passiert ja auch mal was. Viele bekannte Gesichter kommen vorbei, so ist das immer in Erfurt. Egal wo du bist, du siehst immer die gleichen.

Irgendein Magazin hat bei Hassans Dönerladen wieder eine Party geschmissen
19.59 Uhr:

Nichts Aufregendes ist bisher passiert und wir beginnen, uns ein wenig zu langweilen. Wir haben angefangen Papierflieger aus unseren Klausurlernkarten zu falten und sie über die Kreuzung fliegen zu lassen. Serhad – der Späti-Verkäufer – sammelt sie ein und will sie für 20 Cent in seinem Laden verkaufen (sind auch echt gute Flieger!). Außerdem schlägt er uns folgenden Deal vor: Wenn wir es schaffen, dass ein Flieger in den Laden fliegt, dann kriegen wir ausgegeben was wir wollen. Challenge accepted!

20.15 Uhr:

Die Straßenbahn hält direkt vor unserer Haustür und es steigen ein paar Leute aus. Eine Frau, sichtlich angetrunken und ein Mann der ihr folgt, sie immer wieder anfasst. Ganz deutlich kann man bis hier oben hören, dass die Frau sagt, sie will in Ruhe gelassen werden. Der Mann aber lässt nicht von ihr ab. „Lass sie in Ruhe“ schreien wir herunter, so laut es geht. Zunächst zögerlich steigen die anderen Kreuzungsbeobachtenden mit ein. Der Mann ist gar nicht amüsiert und zückt sein Handy, fängt an uns zu filmen. Wir verstecken uns hinter dem Sofa und sind so sicher, aber die Frau ist ja immer noch auf der Straße und geht weiter. Wir beauftragen ein paar Kommilitonen, die auf der Brücke ein Bierchen trinken, zu schauen, dass der Mann nicht der Frau folgt. Er geht in eine andere Richtung. Hätten wir mehr machen sollen? Ich weiß es nicht.

20.42 Uhr:

Immer noch sehr warm. Wir haben uns etwas erholt, was auch an einem weiteren Bier liegen könnte. Langsam dämmert es und die Temperaturen gehen zumindest ein bisschen zurück. Wir machen Musik an, ein bisschen komisch ist das, hier ist es so laut aber da unten auf der Straße hört man nichts davon. Wir treffen ein paar Freunde auf der Straße und brüllen neue Getränkebestellungen nach unten, die wir auch tatsächlich bekommen, wenn wir die Leute zu uns nach oben einladen. 

21.15 Uhr:

Wir haben auf unserer Seite der Straße, direkt einen Stock unter uns, Gesellschaft bekommen. Einige junge Männer langweilen sich scheinbar genau so wie wir in ihrer Wohnung und rufen (abwechselnd zu uns hoch oder auf die Straße runter). Sie haben sich eine Angel gebaut, mit der sie nach den verwirrten Leuten fischen. Das ist tatsächlich ganz unterhaltend. Dann trifft mich aber das Ende der Angel beim hochwerfen am Kopf und auf dem befestigten Zettel steht eine Handynummer. Da wünschen wir uns doch den alleinigen Platz am Fenster wieder zurück. Eine Zeit lang warten wir ab, die unter uns sind aber zum Glück nicht so ausdauernd wie wir beim „Fensterln“ und wir sind schon bald wieder allein.

Sundown at Boyneburgufer
21.33 Uhr:

Mittlerweile haben wir uns mit ein paar Fremden verbrüdert, die unten auf dem Gehweg stehen geblieben sind. Es folgt ein nettes Gespräch, das ab dann unangenehm wird, als sie unsere Papierflieger anzünden und klingeln. So viel Trubel brauchen wir dann auch nicht. Es folgt ein „Ciao“ durch das Megaphon und schon sind wir wieder allein miteinander, wir hier oben und die befüllte Kreuzung unter uns.

22.09 Uhr:

Als wir gerade anfangen, uns die Raudis von eben zurückzuwünschen, fährt ein Sprinter der Polizei in die Querstraße zu unserem Haus. Am Anfang machen wir noch Witze darüber, aber die wollen auch tatsächlich zu uns. Nach unseren Anweisungen klingeln sie und laufen doch ins falsche Treppenhaus, ist ja auch echt kompliziert. Wir stehen unter Verdacht, Leute auf der Straße mit einem Megaphon beleidigt zu haben, sagen sie. Nein nein, nur nützliche Sprüche waren das, wir wollen doch auch, dass alle sicher nach Hause kommen. Wir ernten schmunzelnde bis verwirrt-arrogante Blicke, aber dürfen weiter machen, ist ja nicht verboten. LEUTE, offizielle Genehmigung der Polizei!!!

22.47 Uhr:

Langsam beruhigt sich die Lage unten auf der Straße. Weniger Autos sind unterwegs und auch die meisten Passanten sind weitergezogenen, nach Hause oder zu einem anderen Späti. Wir wollen noch nicht, dass es vorbei ist, auch wenn wir durch die Musik die aus unseren Fenstern schallt langsam müde werden.

24.00 Uhr:

Die Lichter gehen langsam überall aus, schön ist das, aber auch gruselig, dass selbst diese laute, überfüllte dreckige Kreuzung so schnell so ruhig werden kann. Auch der Späti wird bald zumachen. Vorher kommt Serhad aber nochmal raus und schreit hoch: Ey, wollt ihr was umsonst? Und winkt uns schon mit der Sektflasche zu. Das lassen wir uns aber nicht zweimal sagen. Da Serhad aber von unseren Beobachtungsaktionen in den letzten Stunden köstlich unterhalten wurde, fordert er noch eine letzte, finale Aktion: Wir dürfen den Sekt nur haben, wenn wir nicht runterkommen dafür, sondern ihn irgendwie anders hochbekommen. Eine kurze Hektik bricht aus, aber es wären ja nicht wir, wenn wir dafür nicht eine Lösung fänden. Schnell binden wir einige Schals zusammen an einen Korb, der reicht bis runter auf die Straße. Serhad hält sein Versprechen und nach einigen haarscharfen Abstürzen ist die kühle Flasche schnell bei uns oben. Wir winken zum Abschied, bedanken uns. Mit dem Schließen des Fensters ist der Abend mit einem Schlag vorbei. Wir wollen nicht mal mehr die Sektflasche anfangen. Das wäre, wie einen neuen Abend zu beginnen. Die Flasche ist für einen anderen Abend dieser Art, ganz bestimmt auch an einem anderen Ort der Stadt, die noch so viele unentdeckte, besondere Orte bereithält. Die müssen wir nur noch für uns entdecken.  

Sekt-Angeln in Action
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