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Reggaetón: Der Sound, der Córdoba und Córdoba vereint

¿Cómo te llamas, baby?Desde que te vi supe que eras pa’ mí

(Wie heißt du Baby? Seit ich dich sah, wusste ich, dass du mir gehörst).

So schallt es durch die Boxen im Club und jeder singt mit. Frauen schwingen ihre Hüften in knappsitzenden Kleidern und Männer tanzen dicht dahinter. Das passiert in Córdoba in Spanien und in Córdoba in Argentinien, so berichten die Auslandskorrespondent*innen Annka L. und Fabian K. des Ungleich-Magazins exklusiv. Die zwei Städte verbindet außer dem Namen noch etwas: Die Obsession ihrer Einwohnenden mit Reggaetón (bloß nicht englisch aussprechen, eher so: Re-ge-tonn).

Dieser Musikstil hat sich aus vielen verschiedenen Musikrichtungen entwickelt, unter anderem Reggae, Hip-Hop und anderen lateinamerikanischen Musikstilen, zusammen mit elektronischer Tanzmusik. Als Mutterland dieser abgefahrenen Mischung gilt zumeist Puerto Rico. Der König des Reggaetón, der eben in diesem Land gebürtige Daddy Yankee, wird mittlerweile seit zwei Jahrzehnten gefeiert. Der sogenannte Dem-Bow Rhythmus, der in vielen Songs enthalten ist, ist schwierig zu beschreiben, bleibt dafür aber umso einfacher im Ohr.

Erstmal also einfach eine bestimmte Art von Musik. Meistens auf Spanisch. Die meisten von euch haben eh schon dazu getanzt, nur wahrscheinlich, ohne es zu wissen. Despacito zum Beispiel (auch hier wirkt besagter Daddy Yankee mit) ist selbstverständlich auch Reggaetón. Heißer Tipp: Übersetzt mal den Text, der klingt ziemlich nach Soft-Porno. Diesen Eindruck bestätigt eindrucksvoll das Video, was einem im Club in Córdoba zuweilen leider auch nicht erspart bleibt. In deutschen discotecas läuft nach Despacito dann Helene Fischer oder so.

Reggeatón at its finest: Anuel AA, Daddy Yankee, Karol G, Ozuna & J Balvin – China

Hier, in Córdoba bzw. in Córdoba, ist das aber mehr als nur eine Musikrichtung, es ist lebensdurchdringend. Reggaetón wird zu jeder Tages- und Nachtzeit gehört und das erstaunlicherweise auch in jeder Altersgruppe. Morgens wird man von scheppernden Klingeltönen der Malermeister geweckt (I love it when you call me señorita), im Studierenden-Kreis wird bevorzugt laut dazu gesungen, und abends klatschen auch die Alten im Takt in der Bar an der Ecke. Um Reggaetón zu entgehen, darf man also weder zum Kiosk gehen noch ins Restaurant, zum Frisör, zum Optiker, zum Bäcker, zu Freunden, zur Oma und auf gar keinen Fall auf eine der wahnsinnig vielversprechenden Studierenden-Austausch-Partys!

Aber eines haben die beiden Städte nicht gemeinsam: Córdoba & Córdoba liegen fast 10.000 km voneinander entfernt. Wieso hören trotzdem alle die gleichen Songs? Wieso gerade, seien wir ehrlich, meistens den sexistischen von Männern produzierten und gesungenen Reggaetón? Und nicht nur Córdoba & Córdoba hören diese Musik, sondern „todo el mundo“, die ganze Welt. Kaum ein anderes Musik-Phänomen hat sich weltweit einer so immensen Beliebtheit erfreut.

Naja, die ganze Welt ist gelogen. Wo der Hype (noch) nicht so wirklich angekommen ist, das ist Deutschland. Verpassen wir was oder ist es gut, dass das hier noch nicht so bekannt ist? Kommt das noch? Müssen wir unsere schöne Erfurter Heimat vor der Reggaetonisierung der Musikszene schützen?

Okay, eine traurige schein-populäre Ausnahme gibt’s doch in der deutschen Reggaetón-Landschaft: Kay One und Pietro Lombardi (erster Treffer bei Youtube, wenn die spanisch-sprechende Welt nach deutschem Reggaetón sucht). Diese beiden hinreißenden sozial-kritischen Spatzen haben also den progressiven Zeitgeist verstanden und die Lücke im kargen deutschen Musik-biz geschlossen. Was sind wir ihnen nicht zu Dank verpflichtet!

Reggaetón hat also eindeutig so seine Macken und stellt uns vor Probleme: Dürfen wir überhaupt urteilen und mit ausgestrecktem Zeigefinger sagen: Stopp ich finde den Song, den du singst aber gerade nicht so cool, ich fühle mich scheiße und finde es frauenverachtend und gewaltverherrlichend; und noch schlechter finde ich, wenn ich selbst mitsinge, weil ich die Lyrics doch auch schon auswendig kann?

Sind wir zu empfindlich oder die Musik wirklich blöd? Um keinem von vorne rein unrecht zu tun: Seitdem es Reggaetón gibt, gibt es genauso gut Proteste dagegen. Und Debatten über den „machismo“ in lateinamerikanischen Liedern, das ist auch nichts Neues. Aber vor allem in letzter Zeit wächst der Widerstand bedeutend. Zum Beispiel ist die Kampagne #UsaLaRazon auf Twitter bekannt geworden. Hierbei werden die Songs aus der Perspektive der Frau verbildlicht dargestellt und so versucht, eine Gegenkampagne zu kreieren. Auch die Wissenschaft hat sich dem Reggaetón angenommen und überlegt (unter theoretischer Schirmherrschaft von Foucault), wie Geschlechterverhältnisse vom Musik-Stil und seinen keinesfalls zweideutigen Texten beeinflusst werden.

Fakt ist aber auch: Reggaetón wird mehr als zuvor gehört und nimmt zunehmend Einzug in die weltweiten Charts (Jetzt, wo ihr wisst, was das ist, schaut doch mal bei Spotify, was da gerade so angesagt ist, ihr werdet schnell über Reggaetón stolpern). Wahrscheinlich liegt die Beliebtheit an der anderen Seite der Songs: Sie verbreiten Lebensfreude, ein Sommer- und Gemeinschaftsgefühl (holen euch aus der Erfurter Herbst-Tristesse raus und katapultieren euch garantiert direkt in die lateinamerikanische Sonne) und sind so viel Tradition. Ob das toll ist, das muss jede*r wohl mit sich selbst ausmachen. Wir finden Sexismus in Liedern (und in allem anderen) zumindest gar nicht cool.

Für viele ist es dennoch eine Hassliebe, die wirklich ein bisschen in die Zwickmühle bringt. „Na ja zum Ausgehen höre ich das schon, aber die Texte sind halt furchtbar“, hört man da gern. Vielleicht will die Eine oder der Andere nach diesem Text direkt das Tanzbein schwingen. Manche wollen vielleicht nicht mehr so unbedacht mitsingen. Für alle gibt es einen Lichtblick: Mittlerweile machen auch viele „Reggaetoneras“, also Frauen, coole Musik, explizit gegen Sexismus. Eine von ihnen produziert unter dem Namen Chocolate Remix, ihr bekanntestes Lied ist Ni una menos (Nicht eine weniger). Der Titel ist eine Referenz an die großflächige feministische Kampagne gegen die Gewalt gegen Frauen in Argentinien in den letzten Jahren. Haz con tu cuerpo lo que quieras, ¡qué carajos! – Mach mit deinem Körper, was du willst – verdammt! Reggaetón geht also auch anders. Und das ist ziemlich gut so.

Reggaetón zum reinhören: Chocolate Remix – Ni una menos
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