Zur Zeit der Corona-Pandemie und der erschwerten Grenzübertritte, steht für uns Deutsche ein großes Symbol unseres hohen Lebensstandards zur Debatte: der Sommerurlaub. Allein an der Intensität der Bemühungen, mit denen die Bundesregierung versucht, bilaterale Verträge mit Drittstaaten wie der Türkei zu knüpfen, lässt sich ablesen, welch hohen Stellenwert die alljährliche Reise nach Antalya, Mallorca oder Kreta genießt. Und auch wenn zumindest der innereuropäische Urlaub zurzeit nicht unter dem allerschlechtesten Stern steht, stellt sich doch mehr denn je die Frage nach Alternativen. Und die – sowohl mental als auch lokal – naheliegendste ist der Urlaub zu Hause. Hier in Deutschland. Für uns Erfurter*innen bedeutet das vielleicht auch: Hier in Thüringen.
Für mich hat es eine Radtour gebraucht, um zu erkennen, wie vielfältig und schön Thüringen ist. Natürlich sind die typischen Tourist*innen Hotspots nicht von der Hand zu weisen – die imposante Wartburg, das kulturelle Zentrum Weimars, die Krämerbrücke in Erfurt – doch um die soll es hier nicht gehen. Sondern um die Gera, die uns im Norden aus Erfurt führt, um das verlassene Unstruttal, das sich von Gebesee bis Bad Langensalza windet, um die ohrenbetäubende Stille des Hainichs und um kleine, verschlafene Dörfer an der hessischen Grenze. All das habe ich auf meinem Weg von Erfurt nach Kassel entdeckt.
Die ersten Meter
Bereits wenige Kilometer nach unserem Start verlassen wir die urbane Atmosphäre der Plattenbauten des Erfurter Nordens und finden uns im beschaulichen Gispersleben wieder. Auf einem Damm folgen wir der Gera durchs Thüringer Becken. Während Erfurt hinter meinem Rücken verschwindet, wird um uns herum alles leerer, ruhiger, verlassener. Nur ein pittoresker Ziegelsteinkirchturm und der allgegenwärtige Rotmilan am Himmel überrascht ab und zu das Auge. Die Hauptstraße von Gebesee wirkt in ihrer sommerlichen Verlassenheit wie der Schauplatz eines osteuropäischen Dramas aus dem letzten Jahrhundert. Ich fühle mich wie in einem anderen Land. Hier ist auch der Ort, an dem wir uns von der Gera verabschieden und der Unstrut entgegen ihrem Lauf folgen.
Entlang der Unstrut
Zwischen Herbsleben, das für seinen Spargel berühmt ist, und dem beschaulichen Großvargula präsentiert sich das Unstruttal sogleich von einer seiner malerischsten Seiten. Der trockene Südhang mit seiner südländisch anmutenden Vegetation und den weidenden Schafsherden verströmt eine eigenartige, arkadische Schäferromantik. Während das gegenüberliegende Ufer von bewaldeten Hügelchen dominiert wird, mäandert die Unstrut selbst träge im Schatten des ausladenden Geästs alter Trauerweiden dahin. Die knorrigen Stämme bieten eine ideale Atmosphäre für eine kurze Rast.
Wenige Kilometer später erreichen wir Bad Langensalza. Ich bin überrascht von der Größe und der Reichhaltigkeit der historischen Bausubstanz der Altstadt. Die Salza, die in kleinen Kanälen gemütlich durch die Stadt plätschert, und die Verschlafenheit der gepflasterten, von Fachwerkhäusern gesäumten Gassen stehen im Kontrast zu der regen Betriebsamkeit, die auf dem Marktplatz herrscht. Von der strahlenden Maisonne verführt sitzen Menschen vor Cafés und Restaurants oder im Schatten des gut achtzig Meter hohen Turms der Marktkirche.
Unser Weg führt uns nun über alte Plattenstraßen an Erdbeerfeldern vorbei Richtung Hainich. Die tiefgrünen Baumkronen des Nationalparks sind bereits aus einigen Kilometern Entfernung zu erspähen. Sobald wir den Buchenwald betreten, ändert sich die Atmosphäre: Es wird ruhiger, kühler, entschleunigter. Auf einer kleinen Waldkoppel grasen Ziegen. Wir lassen den sehenswerten Baumwipfelpfad rechts liegen und suchen uns einen Schlafplatz für die Nacht. Am Südrand des Hainichs werden wir fündig und genießen von unserer Anhöhe aus den Blick über die in Dunkelheit versunkene Landschaft; auf die weit entfernten Scheinwerfer einzelner Autos, auf das rote Blinken der Windräder und auf ein kleines Feuerwerk in einem benachbarten Ort, das seltsamer Weise genau in jener Nacht stattfindet, als wir dort zelten, wie um uns die Schönheit des nächtlichen Thüringens vor Augen führen zu wollen.
Dem Ende entgegen
Der nächste Tag lässt uns nur noch für kurze Zeit in Thüringen verweilen. Wir verlassen den Hainich an seinem Westrand und machen uns in einer mittlerweile etwas hügeligeren Landschaft – letzten Endes haben wir das Erfurt umschließende Flachland des Thüringer Beckens hinter uns gelassen – auf die Suche nach dem Flüsschen Werra, dessen Lauf wir folgen wollen, bis es in die Fulda mündet. Wir finden die Werra, auf der sich an diesem schönen Pfingstwochenende zahlreiche Kajaks tummeln, in einem beschaulichen Dorf namens Mihla und bewegen uns an ihrem Ufer entlang inmitten von Pferdekoppeln auf die hessisch-thüringische Grenze zu, welche wir kurz hinter Treffurt erreichen.
Damit soll der Reisebericht hier enden. Selbstverständlich sind wir zwischen der hessischen Grenze und Kassel auf ebenso malerische Flecken Erde gestoßen wie zuvor, doch das Augenmerk liegt in diesem Text bewusst auf Thüringen. All die Dörfer und Flüsse, Täler und Wälder sind nur wenige Kilometer von Erfurt entfernt und so für uns Erfurter*innen denkbar einfach zugänglich. Daher ist dies auch ein Aufruf, sich auf die Schönheit Thüringens einzulassen. Einigen muss das nicht gesagt werden, doch viele, besonders Zugezogene, bringen das Bundesland immer noch stärker mit Begriffen wie „Dunkeldeutschland“ in Verbindung als mit dem idyllischen Unstruttal, dem historischen Zentrum Bad Langensalzas oder dem UNESCO-Weltnaturerbe Hainich. Das ist nicht nur schade, sondern trägt vor allem auch nicht dazu bei, westtypische Vorurteile über Ostdeutschland abzubauen. Darum nutzt die eigenwillige Gelegenheit, welche die Corona-Pandemie uns bietet, und lernt eure Heimat kennen. Sie wird euch nicht enttäuschen.