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Wo Erfurt Leipzig schlägt: Part II

Es gibt gute Nachrichten. Zumindest für alle, die diesen herrlichen Winter in Erfurt verbringen und nicht der Heuchelei ergeben den Weg nach grand grand Leipzig angetreten sind. Die guten Nachrichten bestehen vor allem darin: Hier drüben im Osten ist’s auch nicht besser. Es mag diese Kategorien geben, in denen Leipzig Erfurt etwas voraushat. Die haben wir aber geflissentlich ignoriert und präsentieren – in nostalgischem Gedenken an die schönste Stadt weit und breit – nur das, was Erfurt viel besser macht.

Während in Leipzig die Sachsenbrücke zum allseits bekannten Symbol der feierabendlichen Gelassenheit geworden ist, läuft in Erfurt die Brücke am Boyneburgufer/Talknoten noch unter dem Radar der meisten Bewohner:innen. Der Winter lädt nun nicht gerade zum Frönen des grundlosen Biertrinkens und lockerer Straßenmusik ein. Eins ist jedoch klar: Die Boyneburg-Brücke hält nicht nur den Flair einer viel befahrenen Straße (inklusive Ganzkörpermassage durch das Dröhnen vorbeifahrender Bahnen) bereit, sondern hat auch die Getränkeversorgung (der Späti an der Ecke, nicht der andere!!) direkt nebenan. Für den kleinen Hunger liegt Hassan nun wirklich einen Flunkyballwurf entfernt, dort gibt es viel Premium-Fladenbrot und einen Premium-Gesprächspartner und ab und an auch Kunst (pray for 2021).

Zungenzerrung und 3 Rücklichter

Langweilig, langweiliger, Sachsenbrücke

Erfurt ist jedoch nicht nur überschaubar – sondern auch artikulierbar. Leidige Erfahrungen unserer ersten Wochen in Sachsen zeigen: Unmögliches Buchstabenyoga ist hier an der Tagesordnung. Stellt euch nur mal vor, eure Freunde wohnen in Delitzsch, Eutritzsch, Schkeuditz, Kleinzschocher, Kleinwiederitzsch oder Großwiederitzsch und ihr müsstet all das regelmäßig in eure Smartphonetastatur hauen. Und dann denkt ihr, jetzt habt ihr langsam die geografische und orthografische Orientierung und dann wohnen neue Bekannte immer noch in Plagwitz, Connewitz oder Liebertwolkwitz (okay, letzteres kommt nie vor). Erfurt ist da deutlich niedrigschwelliger für jegliche Zungenakrobatik. Außerdem: Wer braucht schon Stadtteilnamen, wenn das Radl dich in zehn Minuten überall hinträgt?

Gut, wir haben uns auch in Erfurt schon über die Fahrradwege aufgeregt. Zurecht, wie wir finden. Allerdings: Seid ihr schon mal in Leipzig Fahrrad gefahren? Subjektive Beobachtungen haben ergeben: Das Aggressionslevel der Autofahrer:innen ist hier mindestens dreimal so hoch. Da weicht das gemütliche Abendradeln eher der Überlegung, ob man sich neben einem Helm auch noch ein drittes Rücklicht und Reflektoren kaufen sollte. Bleibt also manchmal, auch aufgrund der Entfernungen, nur das Bahnfahren. Aber die Straßenbahnen sind – gelinde ausgedrückt – übertrieben seltsam. Eine Illustration: Die neuen Bahnen sind so dünn, dass es auf der einen Seite meist nur Einzelsitze gibt. Nur schwer möglich hier mit dem gleichen Haushalt gemütlich zusammen in der Bahn zu sitzen oder wegen-Sicherheitsabstand-lieber-die-Tasche-auf-den-Nebensitz-Stellen. Nein, in Leipzig wird’s sehr sehr kuschelig und dabei gar nicht mal so mollig warm wie in der Erfurter Straßenbahn im Winter. 

Winterblues mit Mischgemüse

Und wenn der Lockdown jetzt noch verschärft wird oder länger dauert und wir einfach so den Winterblues spüren, wie soll man das Ganze überleben ohne Ibras, ohne Chi Köfte vom arabischen Laden am Anger, ohne Tutkus, ohne Sham? Keine Frage, das kulinarische Angebot in Leipzig ist ebenfalls hervorragend, aber es ist so, als würde dir plötzlich dein Lieblingsessen vorenthalten und dir bleibt nur Mischgemüse. 

Mischgemüse statt Leibspeise

Okay, Disclaimer: Auch wir wissen, dass Erfurt manchmal verdammt langweilig scheint. Immer dann, wenn man mit leerem Magen im Bett liegt, weil man sich nach zehn Uhr abends noch etwas auf die Hand kaufen will und feststellen muss, dass schon alles geschlossen hat. Wenn man gespannt das Wochenende im November abwartet, ob vielleicht irgendwo eine Party steigt und es dann wieder neue Maßnahmen gibt. Wenn man sich mit Spezi und Bier ans Fenster setzt und die Kreuzung unter sich beobachtet und dann passiert rein gar nichts. 

Auch das gehört zu Erfurt dazu und vielleicht gilt es gerade auch diese Erfahrungen nicht zu missen. So bleibt immerhin Zeit für neue Ideen (ein Magazin zum Beispiel, ein Kollektiv, ein Verein) und Zeit, sich mit bestehenden Ideen vertraut zu machen. Statt euch in den kulturellen und kreativen Winterschlaf zu verabschieden, überlegt euch doch lieber, was Erfurt besonders macht – und schreibt einen Artikel drüber. Oder darüber, welche (Kultur-)Institutionen Hilfe brauchen und wie wir sie gerade unterstützen können. Damit es auch 2021 kulturell nicht zum Stillstand kommt und die Stadt potenziell ein Stück besser, ein Stück vielfältiger wird. Und: damit Erfurt Leipzig schlägt – auch in Zukunft.

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