„Was weißt du vom Leben? Vom Campusleben? Hier kannst du nicht einfach über’n Campus gehen. Nein hier kommst du nicht rein – jedenfalls nicht ohne Leistungsnachweis oder Bafög, was weißt du vom Leben? Vom Campusleben?“ – Bong Teggy, zero/zero
Ja, was weiß ich vom Campusleben?
Von meinem Campusleben weiß ich, dass ich selbst mit Leistungsnachweis nicht einfach über den Campus gehen kann. Nicht einfach aus der Bib hinausgehen, frische Luft schnappen, die Baustelle betrachten oder darüber staunen, wie ein Haufen sehr kleiner Kinder in einem Viersitzer-Bollerwagen angefahren kommt (wer das gesehen hat, weiß wovon ich rede). Nein, denn früher oder später dringt von irgendwoher ein „Aaaach, auch hier? Lass mensen gehen!“ an mein Ohr. Ein herrliches Geräusch. Eins, das ich irgendwo bei „Kommst du vorher nochmal mit zur Glasbox?“ und „10 nach am KIZ?“ einsortieren würde (in dieser Rangfolge. Außer es gibt Gemüseköttbullar. Dann folgt auf die Mensa erstmal länger nichts).
Die Realität seit der Corona-Pandemie hingegen:
Sorgfältig in Whatsapp-Gruppen geplante und orchestriert durchgeführte Operationen. Frühzeitiges Anmelden des Wunsches nach gemeinsamem Mensabesuch. Festhalten des Happenings mit einem Foto. Abwägungen, ob bzw. wie lange es ein Hilgi-Kaffee in vertrauter Runde wert ist, sich dem Erfurter Dezember auszusetzen. Kein geflüstertes Freizeitpläneschmieden in der Vorlesung. Stattdessen ist die einzige soziale Interaktion im Rahmen von Lehrveranstaltungen die hitzige Debatte darüber, ob alle ihre Kamera nun kollektiv einschalten oder nicht und wer von wem einen ungnädigen Screenshot beim verwirrten Blick ins Skript gemacht hat.
Dieser Text soll nicht anklagend sein,
dazu sind unsere Probleme, von denen ich hier spreche, vergleichsweise wirklich zu klein. Stattdessen soll er aber wehmütig sein und voller Sehnsucht. Der Sehnsucht nach dem normalen (Uni-)Alltag. Es ist eine riesige Herausforderung gerade irgendwo neu anzufangen (Props und eine fette Umarmung an alle Erstis). Aber auch für „ältere Semester“, wenn man den direkten Vergleich zur „Normalität“ bereits hat, ist diese Zeit bitter. Für viele von uns ist es das letzte Semester in Erfurt und es hätte ein Semester sein sollen, in dem, bevor wir uns in alle Welt zerstreuen, nochmal alles zelebriert wird, was wir hier lieben gelernt haben. In erster Linie die wertvollen Freundschaften, die wir geschlossen haben und natürlich der gemeinsame, lieb gewonnene Campusalltag.
Aber da fehlt einfach was:
Es fehlen Hörsaal Drei und Vier mit ihrem vollgekritzelten Charme, das mehr oder weniger elegante „sich durch die volle Reihe drücken“, wenn man doch mal wieder vergessen hat, dass man früher gehen muss und sich in die Mitte gesetzt hatte. Es fehlt der Hörsaal 7-Glühwein. Es fehlt die Nudeltheke. Es fehlt, im Moment des Frusts oder der Einöde, ins Hilgi zu pilgern und stets einen Pulk prokrastinierender Menschen anzutreffen. Es fehlen die Gespräche zwischen den Bib-Schließfächern, die nur kurzer Small Talk sein sollten und dann doch ewig andauern.
Und auch wenn Erfurt eine Campusuni ist, findet das Studentenleben natürlich nicht nur dort statt. Es fehlen die Glühweinabende, die Plätzchen, die man sonst zu acht in der kleinen WG-Küche backte und am nächsten Tag in der Alten Parteischule teilte (okay, jetzt wird es so richtig nostalgisch). Es fehlen Hauspartys, Konzerte, Jam Sessions. Es fehlen einfach so viele Abenteuer, die nicht im Webex-Raum entstehen (nein, Überraschung, auch nicht im Breakout-Raum).
Geburtstage werden nun sorgfältig mit Doodle-Slots geplant und im Freien gefeiert. Gruppenaktionen in vertrauter Runde weichen Zweiertreffen und auch diese finden anders statt. Man trifft Freund:innen auf einen Spaziergang oder Recup-Kaffee (#supportyourlocal), auch das vorher gut geplant. Seltener ist das selbstverständliche und zusammenschweißende Beisammensein in der Gruppe, bei dem einfach gute Laune entsteht und Erinnerungen gemacht werden.
Was vor allem aber fehlt ist die Spontaneität: sicher sein zu können, stets ein bekanntes Gesicht zu treffen, um seine Bib-Pause zu verbringen. Dass zwischen den Lehrveranstaltungen automatisch die Wochenendpläne entstehen. Dass man spontan noch ein paar Leute mehr mitbringen (oder sich selbst einladen) kann.
Einfacher wird dies nicht durch den hinzukommenden Selektionsdruck zwischen den Bekanntschaften, um seine Kontakte zu reduzieren. Jeder hat zurzeit ein individuelles Level an Vorsicht, auch dadurch ist Gesellschaft komplizierter geworden. Leichtigkeit und Unbeschwertheit haben Planung und Vernunft Platz gemacht.
Vielleicht hat aber auch die Selbstverständlichkeit einem neuen Bewusstsein Platz gemacht?
Denn: Ich will die tiefen und persönlichen Gespräche nicht missen, die viel leichter entstehen, wenn man zu zweit durch die Winterlandschaft läuft. Ich weiß nicht, ob ich unter „normalen“ Umständen auch einfach mal dem Impuls gefolgt wäre, alte Freunde von irgendwoher anzurufen, bei denen ich mich schon viel zu lang nicht mehr gemeldet habe. Da viel Kontakt nun sowieso digital stattfindet, ist alles insgesamt mehr zusammengerückt. Plötzlich findet ein Treffen auch zu 98% sicher statt, wenn es einmal vereinbart wurde. Denn viel zu kompliziert wäre es, alles wieder umzuplanen. Beziehungen verändern sich durch diese neue Verbindlichkeit und die Konzentration aufeinander. Man sagt nicht zu und kommt dann eine Stunde zu spät, denn der andere wartet im Zweifel in der Kälte draußen auf den Spaziergang durch den Luisenpark. Die Zeit gemeinsam ist weniger selbstverständlich geworden und dadurch aber wertvoller, vielleicht genießt man sie sogar mehr. Nicht zuletzt sind wir uns eine gegenseitige Stütze in dieser Belastungsprobe für uns alle – das schweißt Freundschaften zusätzlich zusammen.
Und auch das veränderte Campusleben ist nicht nur schlecht: Für viele ist es gerade leichter, sich irgendwo zu engagieren. Es ist niederschwellig, einfach mal in einer Webex-Sitzung in irgendeine HSG hineinzuschnuppern – leichter, als überall persönlich hinzugehen. Ist es nicht bei dem ein oder anderen Dozierenden sogar angenehm, mal kurz zurückspulen zu können (oder schneller zu stellen, je nachdem)? Der Gang in die Mensa ist zum Highlight geworden. Hier kann man mit Abstand noch einen Rest Normalität genießen und hey, immerhin ist die liebe Mensafrau („hallo-o!“) wieder da. Noch immer kann man sich hier täglich der Überraschung hingeben, welches Gemüse heute frittiert und unter einem peppigen Namen verkauft wird.
Ja, Freundschaften leiden unter der Situation, reorganisieren sich vielleicht. Aber in „reorganisieren“ steckt ein Anfang, ein Prozess, eine Weiterentwicklung. Deshalb ist jetzt auch eine Zeit, in der man auf kreativen Wegen in Freundschaften investieren kann. Wenn wir die konzentrierte Gemeinsamkeit nutzen, können sich Freundschaften in dieser Zeit auch intensivieren.
Und ja, ein „normales“ Wintersemester wäre schön gewesen. Aber vielleicht macht gerade diese Erfahrung unsere ganzen Erinnerungen erst so besonders. Vielleicht können wir eben dadurch alles noch mehr schätzen, was wir davor ganz selbstverständlich genossen haben (auch Linsen-Graupen-Eintopf?). Und uns alle gemeinsam darauf freuen, wenn es wieder so sein kann wie früher.