Auf den ersten Blick scheint Thüringens Landeshauptstadt im Vergleich zu Berlin, New York oder gar dem nahegelegenen Weimar nicht gerade das Eldorado für Kunstliebhabende zu sein. Da wären das Angermuseum, die Kunsthalle am Fischmarkt, die Galerie Waidspeicher und vielleicht ein paar private Galerien – nicht mehr und nicht weniger als es andere Landeshauptstädte auch zu bieten haben. Aber war´s das wirklich schon? Man hätte es vielleicht nicht erwartet, aber Erfurt hat in Sachen Kunst noch einiges mehr zu bieten. Und die gute Nachricht für alle Sparfüchse unter uns: dafür genügt es, einen Schritt vor die Haustür zu wagen und beim Gang zum nächstgelegenen Supermarkt oder den Freunden ums Eck, die Umgebung einmal besonders aufmerksam wahrzunehmen. Vielleicht fällt euch ja dann eine besonders schön bemalte, bunte Wand zum ersten Mal wirklich auf. Vielleicht habt ihr Teile der Open Air Galerie aber auch längst wahrgenommen und euch genau wie ich gefragt, was es damit auf sich hat. In jedem Falle kommt hier die Erklärung.
Banksy ist wohl mittlerweile jeder und jedem ein Begriff. Wer aber kennt Dr. Molrok, Case, TEAM Members, Vapour Trails, Sokar Uno, Skirl, Dexter the Weird, Club 7 oder Greatmade?
Wenn sich euer Gedächtnis jetzt nicht mit einem leisen Klingeln bemerkbar macht, dann geht es euch wie mir – bis ich mich nach unzähligen Begegnungen mit Erfurts aufgepimpten Haus- und Brückenwänden einmal fragte: Wer steckt eigentlich hinter all dem? Warum sehen wir zwar Vieles, aber nehmen es doch selten wirklich wahr? Und wie entstehen eigentlich solche Kunstwerke im urbanen Raum?
Erfurt: Krämerbrücke, KiKA-Figuren und – Kunst?
Von der Neugier gepackt, begebe ich mich also auf die Suche nach einer Person, die mir diese Fragen beantworten könnte und stoße dabei auf Björn Schorr. Mit ihm spreche ich darüber, was Kunstprojekte im urbanen Raum, insbesondere hier in Erfurt, idealerweise bewirken sollen und warum Graffiti die „Einstiegsdroge“ für Kunst im größeren Rahmen ist. Auf die Frage, wie ich ihn am besten vorstellen könne, antwortet er – da wir pandemiebedingt per Telefon sprechen, kann ich sein Lächeln am anderen Ende der Leitung nur erahnen – „Multitalent“. Dann schiebt er noch hinterher, dass er studierter Kunsthistoriker, Kunstwissenschaftler und Kunstvermittler ist. Der eigentliche Grund, warum ich ihn kontaktiert habe, ist aber ein anderer: Björn ist Mitinitiator des Erfurter Projektes OQ-Paint und hier als Ansprechpartner ehrenamtlich tätig.
„to OQ-Paint someones mind”
Björn erzählt mir von der Entstehung der Initiative. Von 2009 bis 2012 bot die Galerie 7A/ B in der Johannesstraße lokalen Künstler_innen die Möglichkeit, ihre Werke zu exponieren. Als die Immobilie verkauft wurde, entstand der Gedanke für ein größeres und dauerhaftes Projekt im öffentlichen Raum. Also gründeten Björn Schorr, Felix Schwager, Karina Halbauer und Michael Ritzmann, aka Dr. Molrok, im Jahr 2013 die Initiative „OQ-Paint“. Der Name des Projektes, der für Unwissende klingt wie die Marke eines Farbherstellers, ist ein Wortspiel abgeleitet von dem Englischen Begriff „occupy“ – zu Deutsch „besetzen“. Der Begriff lehnt sich an die damalige Stimmung der Occupy-Bewegung an; dahinter steckt der Gedanke, den öffentlichen Raum, geprägt von zu vielen kommerziellen Interessen und einer gewissen gestalterischen Anspruchslosigkeit, zurückzuerobern und das Bild, das die Menschen von der Stadt haben, (neu) zu besetzten. Das verdeutlicht auch der Satz „to OQ-Paint someones mind“, der einem Werbeslogan ähnelt: ähnlich wie Werbung uns unterschwellig Dinge verkaufen soll, möchte uns die Kunst einen Perspektivwechsel auf die Stadt, auf unsere Stadt, verkaufen.
„Die Illegalität ist das Problem“
OQ-Paint ist ein Urban Art Projekt, der Übergang zwischen Urban Art und Graffiti jedoch fließend. Björn und dem Team, die selbst ursprünglich aus der Graffitiszene und Erfurter Soziokultur kommen, geht es mit ihrer Initiative vor allem darum, für die Szene zu sprechen und sie zu pushen. Entgegen dem schlechten, öffentlichen Image von Graffiti betont er immer wieder, dass Graffiti nicht das Problem einer Stadt sein kann, sondern die Möglichkeit, es nicht legal auszuüben. Er versucht mir das anhand eines Fußballbeispiels zu verdeutlichen: „Wer eine klasse Fußballmannschaft möchte, kann nicht das Fußballspielen auf der Straße, im Verein oder in der Schule verbieten. So ist es auch mit Kunst im öffentlichen Raum.“ Was Björn damit meint, ist, dass viele junge Kunstschaffende mit Graffiti ihre ersten Erfahrungen machen, ihrer Kreativität freien Lauf lassen und sich richtig ausprobieren können. Deshalb bezeichnet Björn Graffiti als die „Einstiegsdroge“ in die Künstlerszene. OQ-Paint setzt sich trotz – oder vielleicht gerade wegen- seines Selbstverständnisses als Urban Art Projekt dafür ein, Graffiti zu entstigmatisieren und zu entkriminalisieren.
Hier kommen unsere tristen, grauen, eintönigen Betonwände ins Spiel, die zu farbenfrohen Kunstwerken umgestaltet werden. Denn als Mittel zum Zweck dient Kunst im öffentlichen Raum: Projekte, wie die von Dr. Molrok gestaltete Brandwand in der Wilhelm-Busch-Straße oder dem Mashup von Styles des Team Vapour trails in der Liebknechtstraße, sollen eine Ermöglichungskultur schaffen. Vor allem die „Walls of Fame“ setzten einen wichtigen Impuls für die Szene. Hierbei handelt es sich um drei in der Stadt verteilte Wände, die jedem und jeder frei zur Verfügung stehen und an denen sich Kunstschaffende kreativ verausgaben können – ohne dabei gegen das Gesetz zu verstoßen. Eine weitere Freifläche zur legalen Bemalung ist die „Strandwand“ bei der Trommsdorfer Straße, die sich bis zu viermal im Jahr über einen neuen Anstrich freuen darf. Mit all dem verfolgt die Initiative das Ziel, der Graffitiszene eine Professionalisierung zu ermöglichen und gleichzeitig die Bevölkerung auf das kreative Potential lokaler Kunstschaffenden aufmerksam zu machen.
Gestaltungsfreiheit statt Auftragsmalerei
Ganz egal wie schön oder unschön eine Wandmalerei auch sein mag, es gibt Beschränkungen, an die sich gehalten werden muss. Verschiedene Flächendenkmäler, die Gestaltungssatzung und zwölf Sanierungsgebiete in Erfurts Innenstadt verbieten es den Kunstschaffenden, hier einen „Eingriff in das vorhandene Stadtbild“ vorzunehmen. Deshalb finden sich die meisten Urban Art Projekte außerhalb des inneren Stadtkreises in Wohngebieten, wie der Krämpfervorstadt oder dem Erfurter Norden. Das Team um OQ-Paint wirft einen Blick auf die Karte, um potentielle Orte für neue Murals (Wandgemälde) ausfindig zu machen. Danach heißt es, bei den Eigentümer_innen zu klingeln und Überzeugungsarbeit zu leisten. OQ-Paint bietet ihnen eine kostenfreie Wandaufwertung, verbietet im Gegenzug aber jegliche gestalterische Einflussnahme. Björn und sein Team schauen sich im Vorfeld nur das Umfeld an und überlegen, welcher künstlerische Stil hier am besten reinpasst – alles andere bleibt den kreativen Köpfen selbst überlassen. Dem Selbstverständnis von OQ-Paint entsprechend liegt der Fokus darauf, den Arbeitsstil der jeweiligen Künstler_innen darzustellen und ihnen dabei völlig freien Gestaltungsspielraum zu lassen.
Sieben Jahre nach Gründung von OQ-Paint, wurden insgesamt acht Brandwände bemalt und vier Freiflächen zur legalen Bemalung ermöglicht, an denen ein neuer Anstrich nie länger auf sich warten lässt als die nächste Jahreszeit. Auch ein neues Projekt für das Jahr 2021 ist schon in Planung. Anlässlich des Themenjahres “Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen” sollen zwei Wände gestaltet werden, näheres ist noch unklar.
Die Sache mit der Anerkennung
Eine Sache hat mich zum Schluss noch interessiert: Wie nehmen Bewohner_innen und Gäst_innen der Landeshauptstadt die Open-Air-Galerie wahr? Stößt das Projekt auf Interesse, auf Zuneigung oder auf Abneigung? Björn glaubt, dass die Kunstprojekte wahrgenommen werden. Wie es bei den Betrachtenden ankommt, weiß man allerdings nicht, weil OQ-Paint nicht nach Feedback fragt. Darum geht es auch nicht, meint er, denn über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Ziel von OQ-Paint ist nicht, allen zu gefallen, sondern in erster Linie eine Akzeptanz für die Kunstform der Urban Art herzustellen und die Stadt Erfurt diverser und attraktiver zu gestalten. In diesem Sinne, falls euch in diesen grauen Wintermonaten die Langeweile heimsucht, ihr genervt seid vom stundenlangen Auf-den-Laptop-Geglotze oder ihr einfach mal wieder ein bisschen Farbe vertragen könntet: packt euch warm ein, macht euch auf die Suche und erkundet Erfurts wunderbar vielfältige, bunte Urban Art Szene – eine Karte dafür findet ihr auf https://www.oq-paint.com/standorte/.