Disclaimer: Das Composé Festival fand vom 4. bis 6. September 2020 in Jena statt. Das ist nun etwa sechs Monate her. Uns, wie allen anderen, fällt das Arbeiten gerade irgendwie schwer, und der Artikel wollte einfach nicht so recht fertig werden. Weil wir das Composé aber so gut fanden, dachten wir uns: lieber spät als nie. Und ohne den Artikel wird der Februar auch nicht sonniger. Falls Sie auch Ihr Event gern mit der gebotenen Sorgfalt und Professionalität durch das UNGLEICH magazin betreuen lassen würden, schreiben Sie uns gern weiterhin an kontakt@ungleich-magazin.de.
Nachdem uns beim Helge Schneider-Konzert der erste Coup in Sachen professioneller Anerkennung als journalistische Instanz gelungen ist, soll dieser mediale Siegeszug nur wenig später seine verdiente Fortsetzung finden. Wieder ergatterten wir eine Akkreditierung für ein rar gesätes Thüringer Corona-Event – und diesmal sogar ganz ohne unser besonderes Zutun. Soll heißen: Hätte man uns nicht eingeladen, wären wir wohl niemals aufs Composé Festival in Jena gekommen und könnten nun nicht die Geschichte davon erzählen, wie zwei verkaterte Vollblutjournalisten am Tag nach ODD DIVERSITY 2.0 lernten, was es mit zeitgenössischem Zirkus auf sich hat.
Wir finden das Composé Festival irgendwo in den tiefen Winkeln des ausufernden Paradiesparks in Jena. Als wir dort ankommen, besteht unsere exzellente Vorbereitung quasi einzig aus der vagen Vermutung, beim zeitgenössischen Zirkus gebe es irgendwie genau so viel Unsinn, aber weniger Tiere und Clowns als bei der herkömmlichen Version. Unser letzter Zirkusbesuch liegt durchschnittlich 17 Jahre zurück und in Renés Erinnerung war alles damals einfach groß: das Zelt, die Tiere, die Zuckerwatte in der Pause, die Höhe der Akrobatik. Auf dem Gelände des Composé, auf das ca. 100 Personen Zutritt gewährt wurde, wirkt alles eher klein. Kann an dem Wandel des Zirkus liegen, liegt aber vielleicht auch einfach an uns. Uns wurde versichert, das vorhandene Zirkuszelt sei zumindest „mittelgroß“.
Sorry, wir sind nur von der Presse
Als man uns in das umzäunte Gelände lässt, händigt man uns zwei Bändchen aus, durch die sich auch Akrobat*innen kenntlich zeigen. Tatsächlich dauert es keine 5 Minuten, bis wir von einer plötzlich aus dem nichts erscheinenden Familie gefragt werden, wo der nächste Workshop stattfindet. Da wir beide uns nicht einmal einen Handstand zutrauen, unterdrücken wir jeden in uns aufkeimenden Versuch der Aneignung falscher Persönlichkeiten und sagen: „Sorry, wir sind nur von der Presse“. Unser Status als Fast-Mitarbeiter wird weiter geschwächt als sich einer der echten Organisatoren mit Walkie-Talkie neben uns postierte. Aus seinem Walkie-Talkie ertönte die Frage: „Kriegen die UNGLEICH-Jungs Freigetränke?“. Mit einem erwartungsvoll-freudigen Winken geben wir unseren Beitrag zur Diskussion. „Nein nein, die zahlen normal“, tönt es kurz darauf mit barscher Stimme aus dem Walkie-Talkie. „Ich bin der Chef!“ erwidert es – ein schnelles „Ich bin der Chef hinter dem Chef!“ besiegelt jedoch unser Schicksal. Ernüchtert (aber trotzdem noch mit Kater) zucken wir die Achseln.
Frischer Wind statt alten Löwen
Wären wir nun bei einer der traurigen Entschuldigungen für mittelmäßige Unterhaltung zu Gast, die man gewöhnlicherweise auf der Brachwiese vor uckermärkischen Seelenfänger-Dörfern findet, könnten wir diese Enttäuschung wohl in Bergen aus Zuckerwatte ertränken. Der zeitgenössische Zirkus jedoch ist auch umweltbewusster, sozialer und rücksichtsvoller Zirkus. Das bedeutet einerseits, dass wir uns dort mit Wasser und teuren Falafeln verköstigen. Andererseits bedeutet das auch, dass der erste Programmpunkt an diesem Tag die Werkschau eines Zirkus-Workshops für junge Freiwillige ist. Mit der Unterstützung von vier Zirkuskünstler*innen aus Belgien, Italien und Polen hat eine Gruppe von jungen Menschen aus der Gegend – allesamt völlige Anfänger*innen – in der Woche vor dem Composé eine etwa einstündige Vorstellung erarbeitet, die uns vom Festivalgelände führt und mit uns zusammen die Textur des umliegenden Parks erforscht. Dass diese Vorstellung an das erinnert, was man hierzulande wohl „Performance-Theater“ nennt, ist kein Zufall: Der zeitgenössische Zirkus, erklärt uns Mitorganisatorin Stefanie Müller-Durand, steht dem Theater, dem modernen Tanz und der Performance-Kunst wesentlich näher als es der Ruf der Zunft vermuten lassen würde.
Deshalb sucht man im zeitgenössischen Zirkus auch vergebens nach den lebensmüden Kamelen und kamelmüden Clowns, die dem klassischen Zirkus den grauen Glanz der Tristesse verleihen. Stattdessen findet man im zeitgenössischen Zirkus die kunstvolle Auseinandersetzung mit den Problemen der Gegenwart unter Zuhilfenahme von Akrobatik, Musik, Witz und, ja, mitunter auch der Kegeljonglage. So hat im Jahr 2019 unter dem Motto „Würde“ die Palestinian Circus School ein etwa einstündiges Stück zu ihrer Fluchterfahrung aufgeführt, und wir durften in diesem Jahr der SOON Circus Company aus Schweden bei ihrer Auseinandersetzung mit Freundschaft, Rivalität und irgendwie auch Liebe zuschauen. Wäre auf der Bühne kein chinesischer Mast, könnte das Programm auch auf der Werkbühne eines deutschen Theaters stattfinden. Auffallend ist, wie international die Akrobat*innen sind, die beim Composé Festival auftreten – und damit gleichzeitig auch, wie wenig der zeitgenössische Zirkus in Deutschland bisher Fuß fassen konnte: Bekannte Zirkussschulen finden sich vor allem in Skandinavien, den Niederlanden, Frankreich oder im arabischen Raum.
Große Worte, kleines setting – Kübra Gümüşay ist zu Gast
Das Composé, wie durch den klangvollen Namen ausreichend suggeriert, ist eine bunte Komposition aus allem Möglichen. Ohne jegliche Erwartungen und Vorstellungen haben wir uns auf den redaktionellen Ausflug zum Composé begeben – und wurden tatsächlich bestens unterhalten. Der programmatische Höhepunkt verdeutlicht den ernsthaften Anstrich, den sich der zeitgenössische Zirkus bei gesellschaftlichen Themen gibt: Zu Gast ist Kübra Gümüşay, Autorin des Buches „Sprache und Sein“. Ihr Vortrag beschäftigt sich mit dem übergreifenden Thema des Festivals – Identität. Stefanie Müller-Durand erklärt, dass Vorträge wie dieser ein ganz wesentlicher Teil des Composé sind. 2019 war noch der Hirnforscher Gerald Hüther zu Gast und sprach über „Würde“. Mit Kübra war man auch dieses Jahr auf jeden Fall am Puls der Zeit und hat der ganzen künstlerischen Expression noch eine clever ausgewählte Prise intellektuelle Sprachgewalt hinzugefügt.
Wären wir nun die ausgewachsenen Nachwuchsjournalisten, als die man uns auf Veranstaltungen einlädt, wäre nach Kübras Auftritt folgendes passiert: Hals über Kopf stürzen wir zum vorvorvorletzten Zug zurück in die Landeshauptstadt, um uns – in gewohnter Professionalität – noch am gleichen Abend so lange in unseren Redaktionsräumen zu verbarrikadieren, bis wir zwei Seiten Hochglanzartikel aus dem Boden gestampft haben. Wer uns jedoch kennt, weiß: Selbstdisziplin geht uns genauso ab wie Redaktionsräume, und deswegen hat der Artikel unredliche sechs Monate gebraucht, um fertig zu werden. Das aber nicht, weil wir das Composé in seiner Mission und Umsetzung nicht unterstützen wollen – denn das wollen wir ausdrücklich –, vielmehr sind wir, was das rechtzeitige Fertigstellen von Texten angeht, manchmal einfach nicht die dpa.