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Zwischen Erfurter Fassaden – 6 Stunden 15 Minuten

Mit unserem Projekt “Zwischen Erfurter Fassaden – Einblicke in Obdachlosigkeit”, einer Reihe von Artikeln und experimentellen Beiträgen, möchten wir euch Einblicke in die Themen prekäres Wohnen, Wohnungs- und Obdachlosigkeit geben und das Leben Zwischen Erfurter Fassaden aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Für diesen Einblick sprechen wir – zeitgleich mit der Protze Glotze – mit Streetworker*innen, Sozialarbeiter*innen und obdachlosen Menschen und geben ihnen Raum, ihre persönlichen Erfahrungen mit uns zu teilen. Dabei können und wollen wir keinesfalls den Anspruch erheben, alle Facetten und strukturellen Umstände vollständig abzubilden. Vielmehr ist das Ziel, uns aufrichtig mit dem Leben wohnungs- und obdachloser Menschen in Erfurt auseinanderzusetzen, eine Sensibilität für deren Lebensrealitäten zu schaffen, mit Vorurteilen aufzuräumen und einer Stigmatisierung entgegenzuwirken.

Für den heutigen Artikel hat unsere Autorin Katharina den Tag mit einer Person verbracht, die auf der Straße lebt. Ihr Ziel war es, sich in einen Alltag einzufühlen, der anders ist als ihrer, und in sich hineinzuhorchen, mit welchen Vorurteilen sie bisher durch die Welt gegangen ist.

12:15 Uhr

Ich lasse meinen Blick über den Erfurter Anger schweifen und setze mich schließlich auf eine der Bänke, die an ein Blumenbeet anschließt. Es wurde schon lange vor Beginn der BuGa bepflanzt. Währenddessen halte ich Ausschau nach MiNi. Er möchte so geschrieben werden. „Einen Spitznamen denkt man sich nicht aus, der entwickelt sich“, erklärt er mir beim Vorgespräch. Wieso das bei ihm zu einem großen N geführt hat, weiß er nicht, aber er findet, dass es gut aussieht. Als ich ihn frage, ob sein Name ansonsten mit doppel-N und ie geschrieben wird, wundert er sich, ob ich wohl kein Englisch kann und nicht weiß, wie „mini“ ursprünglich geschrieben wird. Das war der erste Moment, in dem leichtes Unbehagen gepaart mit Vorfreude auf die gemeinsame Zeit in mir aufgestiegen sind. Und jetzt, fünf Tage später, fühlt es sich ähnlich an.
MiNi lebt auf der Straße. Ich nicht. Ein Tag reicht nicht, um ein Leben in Obdachlosigkeit kennenzulernen, erst recht nicht, wenn man die ganze Zeit im Hinterkopf hat, dass man am Abend wieder in seine Altbauwohnung mit Fake-Stuck zurückkehren wird. Meine Hoffnung ist allerdings, dass ein Tag mit MiNi dafür genügt, um zu erkennen, was Zeit auf der Straße in mir auslöst, welche Eindrücke ich von meiner Außenwelt wahrnehme und vor allem welche von meinem Innenleben. Ich möchte also erfahren, was ein Einblick in MiNis Alltag mit mir macht.

12:20 Uhr

MiNi taucht auf und setzt sich neben dem Brunnen vorm Anger 1 zu seinen Freund*innen auf den Steinboden. Ich setze mich dazu, bin aber unsicherer als sonst. Was wird die Gruppe von meinem Vorhaben halten? Ist es arrogant, einen Artikel darüber zu schreiben was ein paar Stunden auf der Straße in mir auslösen? Ist das schon kulturelle Aneignung? „Alles klar?“, begrüßt mich MiNi. Seine Hündin Lily streckt den Kopf unter seinem Pulli hervor und lässt sich von mir streicheln. Außer den beiden beachtet mich in der Gruppe kaum jemand, ein Mann mit Schnauzer lächelt kurz, andere ignorieren mich. Ich bin erleichtert, aber auch enttäuscht. Mir wird mein erstes Stereotyp bewusst: dass ich eine herzliche Gemeinschaft erwartet habe, die jede*n aufnimmt. Indem sie mich nicht kritisch beäugen, sondern stillschweigend akzeptieren, dass ich ab jetzt dabei bin, tun sie das aber doch auch irgendwie, oder?

12:30 Uhr

Ich frage MiNi was er am Vormittag gemacht hat. „Das gleiche wie jeden Tag: Bier, Kippe, Klo, losgehen zu meinen Freund*innen“, antwortet er. Auf meine Nachfrage hin, ob ihm das nicht manchmal zu viel ist, jeden Tag mit so vielen Menschen zu verbringen, schüttelt er entschieden den Kopf. „Ich entscheide mich ja jeden Tag freiwillig dazu, zu ihnen zu kommen. Wenn ich reden will, rede ich, wenn nicht, dann nicht“, erklärt er. Seine Freund*innen seien für ihn besser als jede*r Therapeut*in. „Wie soll jemand, der noch nie auf der Straße gelebt hat, nachvollziehen können, worum es in meinem Leben geht?“, fragt MiNi mich. Ich verbringe erst zehn Minuten mit ihm und bin schon überfragt: Welchen Stellenwert sollten persönliche Erfahrungen mit den Problemen, bei deren Lösung Therapeut*innen andere unterstützen wollen, haben? Ist es hilfreich, wenn verschiedene Lebenswelten aufeinandertreffen? Wie oft werden wohl Menschen wie MiNi in herkömmlichen Therapieformen stigmatisiert?

12:35 Uhr

Meine Beine fangen an zu kribbeln. Wie soll ich es aushalten, noch mehrere Stunden im Schneidersitz auf dem Boden zu sitzen? Außerdem rauscht der Brunnen hinter uns so laut, dass ich mich kaum unterhalten kann.  

Der Brunnen auf dem Anger als Lebensmittelpunkt von MiNi und seinen Freund*innen – ein Ort, den andere nur im Vorbeigehen wahrnehmen.
12:40 Uhr

In der Gruppe, die sich zwischen Ursulinenkloster und Brunnen versammelt hat, ist auch ein Kind dabei. Die Eltern? „Der Mann, der neben dem Baum steht, ist der Vater. Aber das ist eigentlich egal, wir sind ja alle für das Kind da“, erklärt mir MiNi, während er sich das nächste Bier aufmacht. Würde das jemand aus meinem Umfeld sagen, würde ich mich darüber freuen, dass Familie inzwischen auf verschiedene Weisen gelebt werden kann. Bei MiNi bin ich skeptischer. Aber es stimmt, jede*r kümmert sich um das Kind: Während der Vater es mit einer Bratwurstsemmel versorgt, knöpft ihm eine Frau auf der Bank die Jacke zu, weil der Wind zunimmt, und MiNi putzt ihm die Nase.

13:00 Uhr

Als mir die Idee zu diesem Selbstversuch kam, hatte ich insgeheim gehofft, dass er mir bestätigen würde, wie offen und vorurteilsfrei ich obdachlosen Menschen gegenüber bin. Es war klar, dass es anders kommen würde.
Nachdem das Kind seine Bratwurst verspeist hat, rutscht es über die Steinplatten näher zu MiNi und mir und gesteht uns, dass es Angst vor Schlangen hat. MiNi sagt ihm, dass es sich dafür nicht schämen müsse, schließlich hätte er auch Angst vor Spinnen. Die nächste Viertelstunde füllt MiNi mit einem Vortrag über verschiedene Schlangenarten; vor allem über ihre Fortbewegungsarten durch die starke Muskelkraft weiß er viel. Dass ich mich darüber wundere, dass er so viel weiß, zeigt mir einmal mehr, dass ich nicht so vorurteilsfrei bin, wie ich mich bis dahin gerne gesehen habe. MiNi ist weniger beeindruckt von seinem Wissen als ich: „Wenn ich bei jemandem in der Wohnung schlafen kann, der einen Fernseher hat, schaue ich gerne Dokus. Und außerdem verbringe ich ja den ganzen Tag damit, mich mit Leuten zu unterhalten, da lernt man eben einiges.“ 

13:10 Uhr

Plötzlich stehen alle, die eben noch Bier getrunken und sich unterhalten haben, von Bank und Boden auf und verstreuen sich in alle Himmelsrichtungen – das Ordnungsamt kommt. Ich sitze noch immer am Boden, ich habe zu spät reagiert. MiNi signalisiert mir, sitzen zu bleiben. Die Personalien mancher Leute werden aufgenommen. Ich bin nervös. Klar, zwar halte ich Mindestabstand und trage eine Maske, aber die Gruppe ist zu groß. Und irgendwie bin ich ja ein Teil von ihr. Später wird mir erklärt, dass das Problem nicht die Ansammlung war, sondern, dass in der Öffentlichkeit Alkohol getrunken wurde, was nach wie vor per Corona-Verfügung in der Innenstadt verboten ist. Während ich noch immer auf dem Boden sitze und eine Taube hektisch vor mir auf und ab läuft, merke ich, welchen Stellenwert Privatsphäre für mich hat. Es gibt mir ein gutes Gefühl, selbst bestimmen zu können, wer innerhalb der nächsten Minuten in meine Unterhaltung mit Freund*innen bei mir zu Hause platzen kann. Denn bevor das jemand tun kann, muss ich erst jede einzelne Person in meine Wohnung lassen. Wenn jedoch wie bei MiNi der Anger das Wohnzimmer ist, kann sich jede*r Passant*in in das Gespräch einmischen – oder eben das Ordnungsamt.

13:20

Ich habe Glück, die Leute vom Ordnungsamt nehmen kaum Notiz von mir. Trotzdem müssen wir als Gruppe vom Anger verschwinden, wir haben einen Platzverweis für die nächsten 48 Stunden erhalten. Alleine dürfen MiNi und ich jedoch früher wiederkommen. Ich bin froh über die Abwechslung, meine Beine sind inzwischen komplett eingeschlafen. Auf dem Weg hinter die Kaufmannskirche fantasiert die Gruppe darüber, die Bank auf dem Anger hinterm Brunnen einfach zu kaufen. „Dann könnte uns niemand mehr vertreiben, das wär‘ was!“, ruft eine Frau in geblümter Bluse den anderen zu. Vor uns laufen das Kind und sein Papa. Sie diskutieren, was sie abends kochen wollen. Die Wahl fällt auf Gemüse mit Würstchen und Kartoffelbrei, scheinbar das Lieblingsgericht der beiden. Ich wundere mich erst darüber, dass die beiden hier sind, wenn sie doch eine Wohnung haben, dann darüber, dass ich mich darüber wundere: schließlich ist für mich der Ort, an dem ich Zeit mit meinen Freund*innen verbringe, auch zweitrangig. MiNi fragt in der Gruppe rum, ob noch jemand einen Euro hat. Wir gehen gemeinsam zu seinem Lieblings-Asia-Imbiss; er möchte sich gebratenen Reis kaufen. Kein einziges Mal an diesem Nachmittag gibt er mir das Gefühl, von mir zu erwarten, dass ich etwas für ihn zahle.

14:00 Uhr

Weil er jetzt gar kein Geld mehr hat, müssen wir wieder zurück auf den Anger. „Geld machen“ oder „arbeiten“, wie MiNi es nennt. Er darf keinen Becher aufstellen, das kann ihm gemäß der Bettelverordnung der Stadt Erfurt als „Verengen von Zugängen oder Errichten von Hindernissen“ ausgelegt werden, was als Teil des aktiven Bettelns verboten ist. Auch direktes Ansprechen mit der Bitte um Geld ist nicht erlaubt. Bei einem Verstoß gegen die Bettelordnung können Strafen in Höhe von bis zu 5000 Euro ausgesprochen werden. Viel Geld – erst recht für jemanden, dessen Einkommen gänzlich vom Wohlwollen anderer Menschen abhängt. MiNi sagt, er will nicht „normal“ arbeiten und „anderen Leuten ihr Geld klauen“, indem er Hartz IV bezieht. Das fände er nicht gerecht. Stattdessen hofft er darauf, dass fremde Menschen und solche, die er kennt, ihm Geld, Bier oder Essen vorbeibringen; oder Futter für seine Hündin. Während unseres Ortswechsels mit tapsender Lily im Schlepptau denke ich darüber nach, warum ich MiNi insgeheim abgesprochen habe, seine Tätigkeit Arbeit zu nennen.

14:05 Uhr

Wir setzen uns an eine Laterne, direkt vor dem Eingang des Anger 1-Gebäudes. Kein Punkt in der Umgebung ist so sehr von allen Seiten einsehbar wie dieser. Ich fühle mich sehr unwohl. Ich hoffe inständig, dass mich niemand erkennt, während ich da mit rundem Rücken, einer Hündin und einem Typ mitten auf dem Anger an einen Laternenpfosten gelehnt sitze. Ich ärgere mich darüber, dass ich nur daran denken kann, was andere wohl über mich denken. In dem Moment, in dem ich sogar froh darüber bin, dass mein Mantel teuer und gepflegt aussieht, wovon Menschen ableiten könnten, dass ich in einer anderen Lebenssituation bin als MiNi und gar nicht hier sitzen „muss“, wird mir endgültig bewusst, dass es sehr unangenehm für mich sein wird, diesen Artikel zu schreiben, wenn er ehrlich und ungeschönt sein soll. Das hier ist wie einer der Tagebucheinträge, bei denen man hofft, dass sie wirklich niemals von einer anderen Person gelesen werden. Allerdings wird das hier gelesen werden – auch von Menschen, die mich bisher so offen und vorurteilsfrei sehen wollten wie ich mich selbst.

14:30 Uhr

Die Stelle am Rücken, an der ich mir vor Jahren einen Nerv eingeklemmt habe, fängt wieder an zu brennen. Ich will nicht mehr sitzen. MiNi löst sich hingegen nur aus seinem Schneidersitz, wenn Lily unter seinem Pullover hervorkriechen will.

14:45 Uhr

Ein Freund von MiNi kommt vorbei, er ist betrunken und schlägt während er redet gegen den Laternenpfahl, an dem ich lehne. Er will mir erst ein Bier, dann eine Cola, dann einen Döner spendieren. Ich lehne alles ab. MiNi schimpft mich, dass ich annehmen muss, was ich angeboten bekomme. Mir wird klar, dass ich in meinem Alltag Einladungen mal annehme, mal ablehne – wie es mir eben in dem Moment passt. MiNi ist auf das angewiesen, was er kriegen kann. Der Freund bleibt bei uns und trinkt in Ruhe sein Bier weiter. Ab und zu fängt er an zu singen.

Eine ähnliche Perspektive wie meine für den gesamten Dienstagnachmittag
15:00 Uhr

Es passiert weniger auf dem Anger als ich erwartet hatte. Ich beginne, die vorbeiziehenden Leute zu beobachten, MiNi tut das schon die ganze Zeit. „Wenn mir langweilig ist, studiere ich die Menschen. Manchmal teste ich sie auch. In Gesprächen versuche ich herauszufinden, ob viele auf unerwartete Fragen ähnlich reagieren“, erzählt MiNi während seine Hündin sich von Passant*innen streicheln lässt. Ich habe das Gefühl, dass er im Moment ist. Meine Gedanken schweifen zu Dingen ab, die ich zu Hause noch zu erledigen habe. Es ist schwierig, nur zu beobachten. Zum ersten Mal bekomme ich mit, wie in der Öffentlichkeit ein TikTok-Video gedreht wird. Die Mädchen versuchen ein Tanzvideo aufzunehmen, müssen aber sehr oft von vorne anfangen, weil sich jedes Mal eines von ihnen vertanzt.

15:30 Uhr

Kurz nachdem MiNi im Anger 1 auf der Toilette war, kommt ein Mann zu uns, er hat eine Schnapsflasche in der Hand. MiNi kennt ihn schon, scheinbar macht er jedes Mal Ärger, wenn er auftaucht. Er fängt an, uns zu beleidigen, droht MiNi mit der Faust und schreit uns so laut an, dass alle Menschen, die auf den Bänken bei den Blumenkästen sitzen und Eis essen, in unsere Richtung starren. Es ist mir sehr unangenehm. Ich habe den Drang zu verdeutlichen, dass MiNi und ich nichts mit dem Wutausbruch des Mannes zu tun haben, aber mir fällt nichts ein, was ich tun könnte. MiNi lässt den Mann schreien und schenkt ihm kaum Aufmerksamkeit. Irgendwann ist er weg. Bis wir den Anger am Abend verlassen, taucht er allerdings noch zwei Mal auf und verkündet wieder, dass er MiNis Genick brechen will.

15:45 Uhr

MiNi und sein singender Freund fangen an, sich zu streiten. Wieder ist es mir unangenehm, ich würde unseren Aufenthaltsort gerne an den Rand des Angers verlagern, damit wir nicht auf dem Präsentierteller sitzen. Ich weiß aber, dass wir bleiben müssen, wo wir sind, weil MiNi sich dort am ehesten verspricht, Geld einzunehmen. Mich schaudert es bei dem Gedanken, mich immer ausschließlich in der Öffentlichkeit streiten zu können, wenn ich keine eigene Wohnung hätte.

16:30 Uhr

Seit über zwei Stunden sitzen wir schon auf dem Anger, bisher hat niemand angehalten, um MiNi Geld zu geben. Die meisten laufen hastig an uns vorbei und meiden Blickkontakt. Die Blicke, die sich mit unseren kreuzen, sind immer fragende oder mitleidige. Ich habe oft das Gefühl mich erklären zu müssen. Das ist ungewohnt für mich. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich normalerweise in der Öffentlichkeit nichts tue, was bei Menschen, die sonst in der Stadt an mir vorbeilaufen, Fragen aufwirft: Ich fahre Fahrrad, gehe einkaufen, gehe joggen, spaziere mit einem Eis durch Erfurts Gassen. Mein Leben, das mir Passant*innen ansehen, ist gesellschaftlich sehr akzeptiert. Ich fühle mich so spießig wie nie zuvor.

16:40 Uhr

Ich habe es inzwischen aufgegeben, mich nicht mit meinen Händen auf den Pflastersteinen abzustützen. Mein Rücken tut allerdings inzwischen so sehr weh, dass auch das nichts bringt und ich mich hinstelle.

Anfang Mai ist der Boden immerhin nicht mehr so kalt wie noch ein paar Monate zuvor. Der Gedanke daran macht das Sitzen etwas erträglicher.
17:30 Uhr

MiNi sagt, dass er es schlecht findet, dass an der Kaufmannskirche nur von unserem Standpunkt aus eine Kirchturmuhr zu sehen ist. Man solle auch an den anderen Seiten Ziffernblätter anbringen. Wenn ihm niemand einen USB-Stecker leiht, kann er sein Handy nicht laden. Dann verraten ihm die Kirchturmuhren die Uhrzeit.
Inzwischen ist es noch windiger geworden, es sieht aus als würde es jeden Moment regnen. An unseren Füßen weht eine leere Bäckertüte vorbei. Bisher habe ich die Weisheit vertreten, dass es kein schlechtes Wetter, sondern nur falsche Kleidung gibt. Jetzt fällt mir auf, dass auch dieser Satz nur so vor selbstverständlichen Annahmen meinerseits strotzt: erstens, dass ich keiner Tätigkeit nachgehe, deren Erfolg wetterabhängig ist und zweitens, dass ich für jedes Wetter die richtige Kleidung besitze.
MiNi hat inzwischen einen Euro und zwei Dosen Nassfutter für Lily bekommen. Je wolkenverhangener der Himmel wird, desto nervöser werde ich. Wenn es regnet, war’s das für heute mit den Einnahmen, dann bricht MiNi auf. Wir haben Glück: Es kommen einige Leute vorbei, die ihm ein paar Münzen geben. Oft sind es Bekannte von ihm. MiNi wirkt nicht als wäre es ihm unangenehm, von Freunden Geld geschenkt zu bekommen. Warum wäre es das für mich schon?

18:05 Uhr

Meine Füße sind taub und direkt wieder eingeschlafen, kurz nachdem ich mich wieder hingesetzt habe. MiNi sagt, er kann es Kindern nicht übelnehmen, wenn sie ihn als „Assi“ wahrnehmen: „Schließlich wird ihnen das so beigebracht: Alles, was nicht nach normaler Arbeit aussieht, ist weniger wert.“

18:30 Uhr

Wir brechen auf. MiNi hat in den viereinhalb Stunden, die wir auf den Steinplatten vor dem Anger 1-Gebäude abgesessen haben, 3,50 Euro, zwei Bier, zwei Dosen Nassfutter für Lily und eine Spargel-Kohlrabi-Suppe mit Topinambur eingenommen. Die Suppe haben zwei junge Leute mit einem Lastenrad vorbeigebracht. Sie liefern in ihrer Freizeit regelmäßig Essen an obdachlose Menschen aus, das sie dafür eigenhändig kochen.
Ich frage MiNi was er heute noch vorhat. „Woher soll ich denn wissen, was ich heute noch mache?“, fragt er erstaunt zurück. Kurz beneide ich ihn darum, dass sein Dienstagabend nicht aus Webex-Meetings besteht, die schon Wochen vorher feststehen, sondern er einfach in den Dienstag hineinlebt, wie auch in den Mittwoch und alle anderen Tage der Woche. Im nächsten Moment bin ich mir allerdings nicht sicher, ob das der richtige Moment ist, um Neid zu fühlen. Da ist allerdings noch ein anderes Gefühl: Dankbarkeit. Denn erst nachdem MiNi und ich uns voneinander verabschiedet haben und ich auf mein Fahrrad steige, fängt es an zu regnen. Und für den nächsten Nachmittag ist sogar Sonnenschein vorhergesagt.

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