Erfurt und Freiburg, die beiden Städte könnten Schwestern sein, fast gleich groß und von ähnlicher Statur. Allerdings zwei Schwestern, die unter sehr verschiedenen Verhältnissen aufgewachsen sind. Die eine, Freiburg, wurde in einem weißen Reihenhaus großgezogen, Vorstadtleben, mit Kiesweg und Garten und Schaukel im Apfelbaum. Erfurt dagegen wohnt in einer Plattenbauwohnung, hat sich in der Schule schon mal geprügelt, bekommt Nachhilfe in Englisch und trägt zerrissene Jeans. Außerdem ist Freiburg die braungebranntere Schwester. Als ich in Freiburg eingezogen bin, war der Himmel strahlend blau wie ein umgedrehter Swimming Pool, in dem man auf einem aufgeblasenen Plastiktier treibt. Die Sonne schien, kein Wunder, bei der Stadt mit den meisten Sonnenstunden Deutschlands pro Jahr. Meine Ankunft in Erfurt sieht etwas anders aus. Es ist bereits dunkel und regnet, der Asphalt ist schwarz und glänzt wie ein Haifischbecken. Meine Mitbewohnerin holt mich und meine zwei Koffer vom Bahnhof ab und runzelt die Stirn, als ich sage, dass ich mein neues Zuhause eigentlich ganz schön finde. „Hm“, sagt sie. „Vielleicht ganz gut, dass es gerade dunkel ist.“ Na, das klingt ja vielversprechend.
Am nächsten Tag mache ich mich also auf das Schlimmste gefasst. Gut, ein paar der umstehenden Häuser hätten eine neue Schicht Farbe ganz nötig, sind vielleicht ein bisschen abgeblättert. Ansonsten wirken die Backsteingebäude in ihren Gelb- und Rottönen doch ganz charmant und müssen sich bei Weitem nicht in der Dunkelheit verstecken. Klar, in Freiburg habe ich im schönsten Stadtviertel gewohnt, neben einer Straße, die mein Mitbewohner liebevoll die „King´s Road von Freiburg“, nannte. Kostet aber auch so viel Miete, dass jede:r in Berlin Wohnende mir mitfühlend auf die Schulter klopfen würde. Und das für eine Stadt, die weit davon entfernt ist, sich Großstadt nennen zu dürfen. Da sind wir doch schon beim ersten Punkt: Erfurt nimmt finanziell den Mund nicht zu voll, und bezieht keinen Sonnenschein-Zuschlag. Dabei kann man sich auch hier gut in die Sonne legen. Man muss nur den richtigen Moment abpassen. Und schnell sein, bevor die Sonne wieder hinter einer dicken Wolkenschicht verschwindet. Man sieht sich, bis in drei Wochen!
Die Zwischenzeit nutze ich, um mir die Stadt etwas genauer anzusehen. Auf meinem ersten Spaziergang Richtung Anger laufe ich an einem Netto vorbei, den ich später „Nicht-so-Ghetto-Netto“ taufen werde. Einfach, weil er nicht so Ghetto ist. Am Eingang stehen zum Beispiel immer ein paar Blümchen. Eigentlich ziemlich nett, finde ich. Erfurt gibt sich Mühe. Nicht nur im Rahmen der BUGA wird gesät, gepflanzt und aufpoliert, was das Zeug hält. Auch sonst hält Erfurt ständig irgendwelche Neuentdeckungen parat, irgendwo taucht immer ein neuer Laden, ein neues Restaurant, eine neue Spezialität auf, und die Erfurter:innen stürzen sich mit Neugier und einem Wagemut drauf, den ich nur bewundern kann. In Erfurt ist einfach noch genug Platz für so was. Freiburg hat schon genügend vegan-bio-regional-hipster Läden mit ihren ergebenen Anhänger:innen. Etwas Neues probieren? Bäh!
Ganz besonders fällt mir in Erfurt beim Vergleich mit Freiburg auch die Herangehensweise an Demos oder andere politische Versammlungen auf. In Freiburg packt man sich für eine Demo die Picknickdecke und eine Limonade ein, und setzt sich damit in den Park oder auf den Platz der alten Synagoge. In Erfurt trifft man sich vor dem Dom, der wie ein Pfeil aus der Stadt herausragt, als wollte er sagen: „Hier passiert gerade etwas Wichtiges!“ Die Polizei umringt das Gelände, sodass es fast so aussieht, als wären mehr Polizist:innen als Demonstrierende vor Ort. Niemand sitzt mit einer Picknickdecke auf den Boden. Das ist schließlich kein Picknickkonzert. Die Leute stehen, stampfen, schreien, sind laut. Warum? Weil sich nebenan die Rechtsextremen versammeln, von denen einige aus Leipzig und Chemnitz angereist sind, extra dafür. Die gilt es zu übertönen, und dazu werden keine Zettelchen mit Liedtexten ausgeteilt, wie ich feststellen muss. In Freiburg werden einem die Worte vorgegeben, hier muss man sich selbst welche suchen. In Erfurt muss man lauter sein als in Freiburg, man muss auch mal im Regen stehen können.
Wie mir in meinen ersten Wochen hier gesagt wird: „Erfurt ist anstrengender.“ Aber ich finde, es lohnt sich. Wenn man bereit ist, hinter die (manchmal etwas abgeblätterte) Fassade zu schauen, gibt es viel zu entdecken, und vor allem: so viel zu tun.