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KAYFUYEM: Zwischen Klagemauer und Selbstportrait – Jüdische Kultur im Hier und Jetzt

Ausstellungsansicht: Daniela Bromberg, Foto: Hendrik Krumbein

“Kayfuyem” bedeutet aus dem Hebräischen übersetzt so viel wie “Vergnügen”,” Plausch” oder “Amüsement” und ist der Titel der aktuell stattfindenden Ausstellung in der Galerie Waidspeicher, die zu den Kunstmuseen der Stadt Erfurt gehört. Kayfuyem, das sowohl im Hebräischen als auch im Russischen verwendet wird, ist ein Slangbegriff und vereint unter sich nicht nur Vergnügungen der gehobenen Art, sondern drückt auch die Freude an der Erfüllung niederer Gelüste aus. Vor allem aber wird er dann verwendet, wenn man gemeinsam Spaß hat, man sich also in guter Gesellschaft befindet. Und das ist definitiv der Fall, wenn man die Gruppenausstellung in der Michaelisstraße besucht, und sich wiederfindet zwischen den großen, abstrakten Formen von Anna Nero, den eindringlichen Selbstportraits von Ofra Ohana und der rosa beleuchteten Installation aus Sofa und Kissen von Daniela Bromberg – mit der ausdrücklichen Aufforderung, sich zu setzen. Der Titel schafft es, den acht völlig unterschiedlichen Künstlerinnen Natascha Borodina, Daniela Bromberg, Zohar Fraiman, Toni Mauersberg, Anna Nero,  Ofra Ohana,  Shanee Roe und Shira Wachsmann gerecht zu werden.

Künstlerinnen von links nach rechts: Zohar Fraiman, Natascha Borodina, Daniela Bromberg, Anna Nero, Ofra Ohana, Shanee Roe, Shira Wachsmann, Toni Mauersberg, Foto: Hendrik Krumbein

Die Ausstellung erstreckt sich über zwei Stockwerke, in denen jede Künstlerin ihren eigenen, beinahe abgegrenzt wirkenden Bereich hat, ohne sich dabei jedoch von den anderen abzukoppeln. Dieses Zusammenspiel der vielfältigen Werke repräsentiert die Diversität der Künstlerinnen, die alle in ihrem Jüdisch-Sein vereint sind, auch wenn dieses wieder sehr unterschiedlich sein mag. 

#weiblich #jüdisch #künstlerin

Diese drei Hashtags stützen den Ausstellungstitel, der zu Beginn vielleicht etwas schwer von der Zunge rollt. Schon vor dem Besuch der Galerie weckten die Hashtags und der Umstand, dass die ausgestellten Werke vollständig von Frauen stammen, bei uns (Alice und Melina) die Erwartungen, eine bestechende Note von Feminismus und den künstlerischen Ausdruck starker Frauen vorzufinden. Diese Erwartungen wurden nicht enttäuscht: Die Ausstellung vereint verschiedene Malstile, Materialien und Themenschwerpunkte. Von abstrakten sowie realistischen Selbstporträts, über faszinierende Provokation und Ausdruck von Glauben bis hin zu interessanten Keramiken findet man in der Galerie Waidspeicher aktuell alles vor. Wenn man glaubt, die Ausstellung könne einen nicht mehr überraschen, schlendert man zum nächsten Werk und verspürt einen kurzen Hauch von Verwirrung, weil man plötzlich etwas vollkommen anderes vor sich hat als zuvor. Die Entscheidung, ausschließlich Künstlerinnen und ihre moderne Kunst auszustellen, wurde vom Kurator Philipp Schreiner bewusst getroffen, um einen besonderen Schwerpunkt bei der Darstellung jüdischen Lebens zu setzen. Die Ausstellung hebt sich in jeder Hinsicht von dem ab, was man bisher gesehen hat und eröffnet so neue Blickwinkel, erweitert den Horizont.

Werk: Zohar Fraimann, Foto: Dirk Urban

Jüdisches Leben ist mehr als nur Vergangenheit

Seit dem 23. September 2021 sind die Tore der Galerie Waidspeicher für die Ausstellung KAYFUYEM geöffnet, welche zum Themenjahr “1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland” und im Rahmen der ACHAVA Festspiele Thüringen stattfindet.

Die Ausstellung befasst sich mit der Kunst acht junger Frauen und ihrer individuellen Sicht auf das jüdische Leben heute. Im Mittelpunkt stehen nicht der Glaube und jüdische Geschichte, sondern die Auseinandersetzung der Künstlerinnen mit ihrer Kultur und Identität, mit der Gegenwart. „Das Ziel der Ausstellung ist es, die Vielfalt jüdischen Lebens heute zu zeigen, und das mit acht verschiedenen Künstlerinnen, mit acht verschiedenen künstlerischen Positionen und mit acht verschiedenen Biografien”, sagt Philipp Schreiner. So vielfältig die acht Künstlerinnen sind, so ist auch das jüdische Leben in Deutschland geprägt von Vielfalt. Denjenigen, die das anhand der Ausstellung selbst noch nicht erkennen können, hilft das Begleitheft zur Ausstellung auf die Sprünge. Herausgegeben von Philipp Schreiner, der KAYFUYEM bereits vor über einem Jahr plante und heute begleitet, finden sich dort Erläuterungen der Werke sowie die Biografien der Künstlerinnen und ihre Werdegänge. Einige der Künstlerinnen sind in Israel geboren, andere in Deutschland, wieder andere in Russland. Während Künstlerin Toni Mauersberg die Giur, die Konvertierung zum jüdischen Glauben, noch vor sich hat, gehört Daniela Bromberg der ultra-orthodoxen jüdischen Glaubensgemeinde an. 

Die Ausstellung soll insbesondere junge Menschen ansprechen und ein Bild vom Judentum vermitteln, dass über den Stoff hinausgeht, der im Geschichtsunterricht an Schulen vermittelt wird. Im allgemein verbreiteten Bild vom Judentum wird oft vergessen, dass das jüdische Leben nicht nur orthodoxe Religion ist, sondern vor allem Kultur. So soll im Rahmen der Festspiele und der Ausstellung die Vielfältigkeit der jüdischen Kultur gezeigt, gefeiert und lebbar gemacht werden.

Werk: Toni Mauersberg, Foto: Dirk Urban

Im Vordergrund steht die Kunst

Mit der Ausstellung wünscht sich Philipp Schreiner, den Besucher:innen einen neuen Blick auf das Jüdisch-Sein zu geben und einen anderen Diskus als gewohnt anzustoßen. Um einen kleinen Bildungsauftrag zu erfüllen, werden an verschiedenen Stellen, wie beispielsweise im umfangreichen Begleitheft, jüdische Begriffe, Bräuche und Anekdoten erklärt. So hat man nicht nur das Vergnügen, eindrucksvolle Kunst betrachten zu können, sondern lernt gleichzeitig noch etwas. Außerdem hat der Waidspeicher ein kunstpädagogisches Angebot für Schulklassen entwickelt, das eine sowohl schöne als auch lehrreiche Erfahrung für Schüler:innen verspricht. Auch wenn über Klischees, Vorurteile und Stereotypen informiert und Wissenslücken geschlossen werden sollen, geht es hauptsächlich um die Kunst selbst. Die Betrachter:innen sollen nicht mit dem Gedanken an Judentum auf die Werke blicken, sondern in der Qualität dieser und den Geschichten dahinter versinken und den jüdischen Hintergrund vielleicht sogar vergessen. Die Schönheit und die Freude an der Kunst stehen im Mittelpunkt. Es ist ein Genuss, so viel Varianz in einem Raum vorzufinden und von der einen Welt in die Nächste einzusteigen. 

Lesung mit Dialog, Teezeremonie und Tätowierstunde zwischen den Kunstwerken 

Im Rahmen der Ausstellung finden in der Galerie Waidspeicher auch Veranstaltungen statt. Die deutsche Schriftstellerin und Kolumnistin Mirna Funk laß aus ihrem Roman “Zwischen Du und Ich” vor; die Künstlerin Natascha Borodina, deren Werke man im oberen Stockwerk der Galerie bewundern kann, lud zur Teezeremonie ein, zu der sie ihr Tätowiergerät mitbrachte. All das zwischen zwei Abbildungen der Klagemauer und einem Selbstportrait von Toni Mauersberg. Ein besonderes Highlight: Zwischen den Stühlen für die Besucher:innen steht ein weißer Plastikstuhl, der vorher vor der Klagemauer in Jerusalem stand und den die Künstlerin für die Betrachtung ihrer Werke extra hat einfliegen lassen. Und ja, auch dieser Stuhl lädt dazu ein, sich zu setzen. Man wird selbst zum Teil der Ausstellung und ihrer Werke. Und eben das macht sie so eindrucksvoll.

Werk: Toni Mauersberg, Foto. Hendrik Krumbein 

Nach diesem kleinen, noch nicht zu vielsagenden Einblick in die Ausstellung des Waidspeichers habt ihr nun die Möglichkeit, euch von den Werken der Künstlerinnen ebenso in Faszination versetzen zu lassen wie wir.  KAYFUYEM läuft noch bis zum 28.11.2021 jeden Dienstag bis Sonntag von 11 Uhr bis 18 Uhr. Schaut vorbei und lasst euch überraschen, informieren und erfreuen. Weitere Informationen findet ihr auf der Website der Ausstellung und auf @erfurtkultur.

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