UNGLEICH X QueErfurt
Ihr Lieben, ihr lest gleich einen Text, der im Vergleich zu anderen UNGLEICH-Artikeln einen ungewöhnlichen Stil hat. Im Rahmen unserer Artikelreihe mit QueErfurt beschäftigen sich die Autor:innen mit sehr persönlichen und emotionalen Themen. Dementsprechend bietet dieses Format auch Platz für neue Textformen, die so individuell sind wie die Geschichten dahinter. Bitte seid offen dafür <3
Triggerwarnung: Dieser Text beschäftigt sich mit Depressionen. Betroffene oder Menschen, die das potenziell belastet, sollten eventuell nicht weiterlesen.
„Lass uns leben,
Träumen und realisieren,
Was unsere Wünsche uns aufzeichnen.“- Zitiert aus meinem Gedicht „Träumen und realisieren“ (2017) –
Prolog: Die Feuertaufe
Als die Welt mir die sicher geglaubten Fundamente entriss, sehnte ich mich vergeblich nach deiner verhängnisvollen Liebe. An jenem vergangenen Tag hast du mich vor die Wahl gestellt. Deine ewige Verheißung stand all jenen offen, die ohne das waren, was du für Sünde hieltst und die sich frohlockend deiner eisernen Fügung unterwarfen. Getrieben von dem Wissen um meine Gedankendelikte, entfremdete ich mich nach deinem schier unbeugsamen Willen von mir selbst. „Queer-sein ist eine Sünde“, wurde mir seit jeher unterschwellig eingeredet. Seit ich denken kann wurde ich zu einer abstrakten Anomalie erklärt. Mobbing und Ausgrenzung stützten sich auf scheinbar unmännliche und nicht-heterosexuell assoziierte Charakteristika. Doch warum eigentlich? Was habe ich falsch gemacht?
An jenem Tag sollte sich alles ändern. Die Posaunen dröhnten und ein in weiß gekleideter Mann rief mich erwartungsvoll zu sich. Ich folgte seiner tiefen Stimme und kniete mich vor der Versammlung nieder. Er legte seine kalte Hand auf mein Haupt und verlas in wirrem Hebräisch das Urteil. Aufs Wort sollte der Heilige Geist aus dem Himmel herabsteigen, die Dämonen meiner geistigen Verwirrung mit feuriger Gewalt ergreifen und sie endgültig in die ewige Verdammnis verbannen.
„Füge dich dem rechten Willen!“ –
Vergeblich. Ein weiteres Mal ertönten nur leere Worte. Ich sei ohnehin selbst schuld an meinem mangelnden Glauben. Ein Vorwurf, der sich zunehmend festigte. Irgendwann konnte ich dem äußeren Druck nicht mehr standhalten. Meine innere Queerness war wohl einfach zu mächtig für dich. Dämonenaustreibungen wie du sie nanntest, bzw. Konversionstherapien sind in ihrer Unterdrückung von Identitäten wirkungslos und brandgefährlich. Gott, was denkst du dir, deine eigenen Kinder so sehr zu hassen? Ich entfernte mich endgültig von dir und sollte von nun an meinen eigenen Wegen folgen.
„Wer als ich vermag mein Herz zu stillen?“
– Zitiert aus meinem Gedicht „Das Jüngste Urteil“ (2020) –
Kapitel 2: Im Schatten unserer Zeit
Queere Menschen müssen tagtäglich für Sichtbarkeit und Anerkennung kämpfen und sich zugleich den Urteilen fremder Menschen unterwerfen. Es ist leicht, einen Menschen vorschnell in eine Schublade zu stecken. Es liegt in der Struktur unseres Gehirns zu filtern und zu ordnen, um in der überfordernden Komplexität der Wirklichkeit, Orientierung und Halt zu finden[1], doch trübt es zugleich unsere Sinne und nimmt uns die Fähigkeit, ihre wahre Natur zu erkennen.
Manche Menschen fühlen sich hiervon unberührt und glauben in ihrer gottgleichen Allwissenheitsfantasie an eine unerschütterliche Objektivität ihrer verinnerlichten Denkstrukturen, mit denen sie sich vereinfacht die Welt erklären. Queeres Denken setzt sich dem entgegen, mit dem individuellen Wesen des Menschen an und für sich auseinander.
Sei offen zu deinen Mitmenschen, und ihre wahre Natur wird sich dir offenbaren!
Queer-sein ist ein Privileg! Eine Botschaft, die ich entgegen allen queerfeindlichen Tendenzen mit Stolz aufrechthalte. Viele Leidensjahre mussten vergehen, ehe ich die tief in mir verwurzelten Ängste aufarbeiten und endlich zu mir selbst stehen konnte. Das war nicht immer einfach, manchmal war es unerträglich. Allen äußeren Widerständen zum Trotz wurde ich nur stärker und es eröffnete sich mir eine neue und ungetrübte Perspektive, die das Potential in sich trägt, die Welt zu verändern. Leider fühlen sich nicht alle Menschen dazu berufen, diesen Schritt zur Seite zu treten und einen differenzierteren Blick auf die noch bestehenden gesellschaftlichen Missstände zu werfen.
Ist denn Geschlecht nicht etwas Biologisches? Höre ich dich sagen. Natürlich kommen wir mit unterschiedlichsten Merkmalen auf die Welt. Wir alle wachsen zunächst gleichermaßen mit allen geschlechtlichen Veranlagungen auf, die sich erst unter dem Einfluss von Sexualhormonen ausdifferenzieren.[2] Auf welche Eigenschaften können wir Geschlecht demnach reduzieren?
Biologisch bin ich sowohl fähig Kinder zu stillen als auch zu zeugen.
Und die Gene? Würdest du jetzt sicher gerne einwerfen. Ich habe nie meine Chromosomen untersuchen lassen. Es würde sicher viele Überraschungen geben, wenn sich alle Menschen testen würden. Intergeschlechtlichkeit liegt vor, wenn mindestens eines der vielen Merkmale uneindeutig ist und wird in den meisten Fällen erst sehr spät oder gar nicht erkannt. Die Realität der Vielfalt menschlicher Wesensarten und Körper ist viel zu komplex, um die Kurzsichtigkeit einer zweigeschlechtlichen Einteilung zu begründen. Queere Biologie ist ein spannendes Feld für sich und rechtfertigt keinesfalls jene traditionellen Denkstrukturen, die noch tief in unserem sozialen Bewusstsein sitzen.
Kapitel 3: Soziale Wahrnehmung
Entscheidend ist nämlich erst die Summe der äußeren Merkmale, die ein Mensch, als Eindruck auf unsere soziale Wahrnehmung hinterlässt. Immer öfter werde ich intuitiv weiblich gelesen. Sind es die langen, lockigen Haare? Die Art wie ich mich fortbewege? Der Einfluss der Hormone? Meine Silhouette? Doch was wäre, wenn ich all diese Eigenschaften nicht tragen würde? Genau genommen entspreche ich lediglich vorherrschenden sozialen Idealen. Drehe ich nur an einigen wenigen Stellschrauben, entrinnt diese Wahrnehmung. Weil wir gelernt haben, in weiblich und männlich zu denken, ordnen wir Charaktereigenschaften intuitiv diesen sozialen Kategorien zu. In beiden Fällen entspreche ich keiner eindeutigen Kategorie. Der dahinterliegende Prozess wird für uns meistens erst dann sichtbar, wenn ein Mensch, durch uneindeutig empfundene Merkmale, irritierend wirkt. Erst ein Blick zwischen den Geschlechtern ermöglicht eine neue Perspektive auf die verinnerlichten Denkstrukturen.
Wie wir Menschen wahrnehmen, resultiert aus unserem sozialen Bewusstsein.
Die meisten Menschen sind sich ihrer sozialen Identität intuitiv bewusst. Sie sammeln schon ihr ganzes Leben lang Erfahrungen in ihrer Rolle, während ihr Blickwinkel zum Maßstab der sozialen Wirklichkeit erklärt wird. Gedankenversunken verlaufe ich mich in der Weltgeschichte und vergesse manchmal was es bedeutet, als queere Person wahrgenommen zu werden. Früher war es der soziale Konformitätsdruck, nicht noch weiter als ohnehin schon aus der männlichen Geschlechternorm zu fallen. Dann änderte sich ihre Perspektive mir gegenüber. Jetzt sind es einzelne von der weiblichen Geschlechternorm abweichende Merkmale, die scheinbar in manchen Fällen so irritierend wirken, dass ich unhinterfragt mit falschem Pronomen angesprochen, oder während eines Spaziergangs durch die Menschenmenge, mit diesem starren, durchdringenden Blick begutachtet werde. Sie merken nicht einmal, wie unwohl ich mich dabei fühle, wenn ihr irritierter Gesichtsausdruck geradezu festfriert. Manchmal ist es auch nur der lähmende Druck der unumgänglichen Aufmerksamkeit in einer Vorstellungsrunde mit neuen Menschen. Harmlose Alltagserfahrungen, die einen wieder zurück aus dem Träumen, in eine leider oft unaufgeklärte und bedrückende Realität führen.
„Ich sehe dich leiden, vom Schlafe erwacht.
Deine Seele verkümmert, der Albtraum ward Tag.“
– Zitiert aus meinem Gedicht „Ferne Träume“ (2018) –
Besonders in solchen Momenten würde ich mir ein Zeichen der Sichtbarkeit queerfreundlicher Menschen wünschen, um die tief eingeprägten sozialen Ängste zu begegnen. Leider kann ich nicht in die Köpfe der Menschen sehen. Stattdessen verziehe ich mich in meinem allgegenwärtigen Bedrohungsgefühl und verstumme in unauflösbarer innerer Angespanntheit.
Meistens bleibe ich unerkannt. Dann sind es auf einmal diese Momente, in denen mir von sichtbar alkoholisierten männlichen Personen aus dem Auto nachgepfiffen und ich nebenher verfolgt, oder allein und ungeschützt im Dunkeln, durch illegitime und objektifizierende Bemerkungen entmenschlicht wurde. So fühlt es sich also an, in unserer Gesellschaft als weibliche Person wahrgenommen zu werden? Erschreckend! Kein Blickkontakt, kein Wort und möglichst schnell und immer zielgerichtet an ihnen vorbei, bevor tatsächlich noch etwas geschehen könnte.
Hin und wieder frage ich mich, was eigentlich passieren würde, wenn sie merken, dass ich mehr als nur weiblich bin? „Naja, vergewaltigen können sie mich ja irgendwie nicht“, denkt sich mein selbstironisches Gehirn, während es zugleich realisiert, wie brutal manche Menschen in der Folge mit uns umgehen würden. Wenn Irritationen zu einem inneren ideologischen Wertekonflikt führen, liegt die Schuld mit Sicherheit nicht in der Unvollkommenheit der eigenen zu hinterfragenden Weltanschauung.
Kapitel 4: Realisieren
Die Angst vor der fortschreitenden sozialen Ächtung, brannte sich seit frühster Kindheit so tief in meine Seele, dass allein ihre immerwährende Möglichkeit zur mich ständig lähmenden Begleiterin wurde. Ich war mir seit jeher meiner Andersartigkeit bewusst, doch fehlte es schlicht an Aufklärung und Perspektive. Ich sei ja ohnehin selbst schuld an meinem Leid. Ich zog mich aus der sozialen Wirklichkeit in ein Schicksal der Selbstentfremdung und Einsamkeit, bis ich in meiner verzweifelten Suche nach Liebe, Freundschaft und Wertschätzung auf jene Menschen traf, denen ich stattdessen nur zu einem Werkzeug ihres Glaubens werden sollte.
Ich war blind für die Offenheit der richtigen Menschen.
Fast Fünf Jahre sind seit dem letzten Tag vergangen, an dem ich mit dem Gedanken in die Straßenbahn stieg, nur eine kleine Auszeit von diesen Menschen zu brauchen. Der innere Sog zog mich fort. Doch je mehr Zeit verstrich, desto mehr realisierte ich erst, welchen Dämonen ich tatsächlich ausgesetzt war. Doch statt eines Aufbruchs, stürzte ich aus allen Himmeln in die Depression und verlor mich über Jahre in meinen düsteren Gedankengängen.
Ich schrieb Gedichte in ewiger Sehnsucht nach einem Lichtblick. Der entstandene Gedichtzyklus „Dämmerung“ beginnt mit dem Dialog „Das Jüngste Urteil“ und stellt mich vergeblich rechtfertigend gegen Gott vor Gericht. Doch sein verheerender Urteilsspruch verblasst und aus eigener Kraft werde ich in einer Reise durch die Gedichte zu neuer Stärke finden. Im Epilog „Jenseits der Zeit“ werde ich schlussendlich das erste Mal mir selbst begegnen und die Entscheidungen meines Lebens, frei von fremden Urteilen, durchsetzen.
Epilog: Träume und Perspektiven
Liebe Menschheit,
seit zwei Jahrzehnten versuchen wir schon miteinander auszukommen. Und ich weiß, es ist nicht immer leicht, vom eigenen Standpunkt aus, eine neue Perspektive wahrzunehmen. Dieser Brief soll ein Angebot sein, um diesen sinnfreien Krieg zu beenden. Ich habe Fehler gemacht. Ich habe geglaubt ich könnte dich verändern, allein. Ich kann auch weiterhin nicht abstreiten, dass eine Kapitulation deinerseits viele Menschen aus ihrer verhängnisvollen Aussichtslosigkeit führen würde.
Ich verzeihe dir, denn gemeinsam könnten wir viel mehr erreichen. Ja, ich habe den Traum, dass wir eines Tages in Eintracht gegen die großen Fronten dieses Jahrhunderts bestehen werden. Doch stattdessen reiben wir unsere emotionalen Ressourcen stets gegeneinander auf.
„Du wirst dein Schicksal überwinden,
Ebnest uns die neue Welt.
Gekeimt, trotz‘ turbulenter Zeiten;
Aufstieg über‘m Sternenzelt!“
„Der Geist, der alle Seelen bindet,
Milliarden Leben, Hand in Hand;
Der Hoffnung Lebensglut sie lodert,
Der Sinn erfüllt – die Leere ganz.“
– Zitiert aus meinem Gedicht „Aufstieg der Gerechtigkeit“ (2019) –
Queere Menschen haben die innenwohnende Kraft, unaufhörlich und durch alle Zeitalter hindurch, für die Anerkennung ihres Menschseins weiterzukämpfen. Wir sind das unauslöschliche Feuer, welches dem sterbenden Gemeinsinn und dem verwesenden Planeten, allen Strömungen zum Trotz, wieder Leben einatmen wird. Ein Geschenk, welches nur angenommen werden braucht, um endlich die historische Verheißung einer gerechten und menschenwürdigen Zukunft einzuläuten.
~ Felizia Möhle
„Lass uns leben,
Träumen und realisieren,
Dass auch wir nur Menschen sind.“
– Zitiert aus meinem Gedicht „Träumen und realisieren“ (2017) –
Ein Text von Felizia Möhle
[1] Grundannahme in der Erkenntnistheorie. Bei der Erkenntnistheorie handelt es sich um ein Gebiet der Philosophie, das die Entstehung von Wissen und Überzeugungen behandelt.
[2] https://www.quarks.de/gesundheit/medizin/sexualitaet-wie-unser-biologisches-geschlecht-entsteht/