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Wir, der Krieg und unsere Freundschaft

Wie sich eine russisch-ukrainische Beziehung seit der Invasion verändert hat

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In dieser zweiteiligen Interviewreihe berichten eine ukrainische und eine russische Studentin der Uni Erfurt von ihren persönlichen Erfahrungen rund um den Krieg in der Ukraine. Im Vordergrund steht die Frage, wie es ist, den Entwicklungen im Heimatland von Deutschland aus zuzuschauen und wie sich das Verhältnis zwischen Russ:innen und Ukrainer:innen in den letzten Monaten verändert hat. Es handelt sich um persönliche Erfahrungsberichte, die deshalb nicht auf alle Menschen bezogen werden können. Die Aussagen der Interviewten spiegeln nicht die Meinung der Redaktion wider. Das Ziel ist vielmehr, einen Einblick in mögliche Gefühlsleben der Menschen zu geben, die vom Krieg betroffen sind.

Teil 1: Die ukrainische Studentin Alina Kusnezowa* erzählt von dem „Überlebensschuld-Syndrom“ und warum sie sich nicht mehr mit Menschen aus Russland an einen Tisch setzen würde.

Alina Kusnezowa (26) kommt aus der Ostukraine. Ihre Heimatstadt Lyssytschansk befindet sich im Gebiet Luhansk, ca. 150 km entfernt von der russischen Grenze. Bereits im Jahr 2014 wurde die Stadt von Russland besetzt und nach kurzer Zeit wieder von der ukrainischen Armee befreit. Nachdem Alina die Schule abgeschlossen hatte, zog sie nach Kiew, um dort Journalismus zu studieren. Bis sie 2021 für ihr Master-Studium nach Erfurt kam, lebte und arbeitete sie in der Hauptstadt der Ukraine. Schon 2014 bekam sie die Straßenproteste der Studierenden gegen die Annäherung an Russland mit, bei denen Dutzende Studierende starben. 

Wie war es für dich, die Ereignisse in der Ukraine von Deutschland aus mitzuverfolgen?

Normalerweise würde ich mich als emotional stabile Person beschreiben. Am Morgen des 25. Februars, nachdem ich die Nachrichten über die Invasion gelesen hatte, bekam ich aber die erste Panikattacke meines Lebens. Ich konnte stundenlang nicht aufhören zu weinen – egal wo ich mich aufhielt. Erst als ich mir in der Apotheke ein Mittel gegen die Panik geholt habe, habe ich aufgehört zu weinen. Ich kann mich seitdem gar nicht mehr auf meinen Job oder auf die Uni konzentrieren. 

Ich lese 24/7 die Nachrichten. Das wirkt sich auf meine Psyche und meinen Körper aus: Vor einigen Wochen habe ich mir den Knöchel verstaucht und ich kann immer noch nicht richtig laufen. Ich glaube das hängt mit meinem psychischen Zustand zusammen. Wenn ich aufhöre, die Nachrichten zu lesen, fühlt es sich so an, also würde ich die Kontrolle verlieren und aus dem Kontext fallen. Dann weiß ich nicht mehr was gerade passiert und das ist noch schlimmer, als die Nachrichten zu lesen. 

Viele Menschen aus der Ukraine drehen sich emotional zurzeit im Kreis: Erst kommt der Schock, dann die Euphorie, weil man das Gefühl hat, zu gewinnen. Dann fällt man von diesem Hoch wieder in eine tiefe Depression und anschließend akzeptiert man die Situation einfach. Jeden Monat durchlaufe ich diesen Kreislauf von Neuem. Ich bin nicht in Therapie und ehrlich gesagt wüsste ich auch nicht was ich eine:r Therapeut:in erzählen sollte: Ich habe so große Schmerzen, dass ich es nicht in Worte fassen kann. 

Das ist dieses Überlebensschuld-Syndrom: wenn du es geschafft hast, einer gefährlichen Situation zu entkommen, während andere Menschen dabei ums Leben gekommen sind“.

Wie fühlt es sich an, in solch einer Zeit weit weg von Zuhause, in Deutschland, zu leben?

Ich versuche wirklich, mich abzulenken, aber sobald ich entspannen und die Sonne genießen will, fühle ich mich schlecht, weil viele meiner Freund:innen gerade nicht die Möglichkeit haben, ihr Leben zu genießen. Das ist dieses Überlebensschuld-Syndrom: wenn du es geschafft hast, einer gefährlichen Situation zu entkommen, während andere Menschen dabei ums Leben gekommen sind, oder noch in der Situation feststecken.

Einer Freundin aus Kiew, die zu mir geflohen ist, geht es ähnlich: Wegen Schuldgefühlen gegenüber ihrer Familie und Freund:innen, die gerade nicht die Möglichkeit für solche Aktivitäten haben, schafft sie es nicht, Klamotten einkaufen zu gehen – obwohl sie all ihre Kleider in der Ukraine zurückgelassen hat. Bevor sie zu mir kam, verbrachte sie zwei Wochen in einem Luftschutzbunker. 

Ich habe bereits mein ganzes Geld gespendet. Ich kann zudem versuchen, Informationen über den Krieg zu verbreiten und zu übersetzen. Das ist das Minimum an dem, was ich gerade tun kann. Aber wenn die Zeit kommt und ich die Möglichkeit sehe, im Rahmen meiner beruflichen Fähigkeiten als Journalistin die Menschen in der Ukraine zu unterstützen, werde ich das auf jeden Fall machen.

Wie sieht die aktuelle Lage deiner Freund:innen und Familie aus?

Die russische Armee befindet sich im Moment 20 km vor meiner Heimatstadt. Noch ist die Stadt frei. Meine Großeltern sind endlich, nach mehrfacherer Aufforderung, von der Ost- in die Zentralukraine geflohen. Das war eine schwierige Entscheidung, weil meine Großmutter nicht selbstständig laufen kann. Meine Tante und ihre Familie wohnen in Cherson. Die Stadt ist zurzeit von den Russen besetzt. Das Mobilnetzwerk fällt mehrmals am Tag aus, aber zumindest stehen wir jeden Tag per WhatsApp in Kontakt. Sie können die Stadt nicht verlassen. Jeden Tag gehen sie auf die Straße, um zu demonstrieren. Wir machen uns zwar große Sorgen, aber sie sind der Meinung, dass das das Einzige ist, was sie in ihrer Situation tun können. Sie warten auf die ukrainische Armee, damit sie befreit werden.[1]

Jeden Morgen durchlaufe ich die gleiche Routine und frage alle auf WhatsApp, wie es ihnen geht. Was ich eigentlich wissen will: ob sie noch leben.“

Auch die meisten meiner Freund:innen aus Kiew leben noch in der Ukraine. Alle, die Verwandte oder Bekannte in der Westukraine haben, sind dorthin geflohen. Viele meiner Freunde dürfen das Land nicht verlassen, weil sie wehrpflichtig sind. Auch viele Frauen bleiben, weil sie ihre Ehemänner nicht zurücklassen wollen. Jeden Morgen durchlaufe ich die gleiche Routine und frage alle auf WhatsApp, wie es ihnen geht. Was ich eigentlich wissen will: ob sie noch leben.

Einer Freundin aus Mariupol habe ich die Standorte von Luftschutzbunkern ihrer Stadt geschickt. Sie hat sich aber wegen der Schießereien nicht getraut, ihre Wohnung zu verlassen. Nach unserem Gespräch war sie zehn Tage lang nicht mehr online. Ich habe mir große Sorgen gemacht, aber vor Kurzem hat sie mir mitgeteilt, dass sie es geschafft hat, in einen Vorort der Stadt zu fliehen. Ich versuche zu helfen, aber es ist schwer, aus der Entfernung wirklich etwas zu bewirken. 

In deinem Masterstudiengang gibt es eine Mitstudierende aus Russland. Hat sich euer Verhältnis seit der Invasion im Februar verändert?

Ja sehr. Bis Februar waren wir eigentlich noch befreundet, das hat sich inzwischen geändert. 

Kurz bevor Russland in die Ukraine einmarschierte, habe ich mich dazu entschlossen, nur noch Ukrainisch zu schreiben und zu sprechen – kein Russisch mehr. Ich habe in der Zeit meiner russischen Mitstudierenden geschrieben, dass ich meine russische Tastatur gelöscht habe und nur noch auf Ukrainisch oder Englisch kommunizieren werde. So kam unsere erste Auseinandersetzung über Nationalismus zustande. 

Warum hast du dich dazu entschlossen, nur noch Ukrainisch zu sprechen? 

Ich hatte nie ein Problem damit, Russisch zu sprechen. Während wir in der Schule hauptsächlich auf Ukrainisch unterrichtet wurden, habe ich mit Familie und Freund:innen meistens auf Russisch kommuniziert. Ein Großteil der Menschen um mich herum ist bilingual aufgewachsen. 

Aber in meinem Land ist Sprache eine Waffe. Das kann man zurzeit gut sehen: Im russischen Parlament wurde schon ein Gesetz vorgeschlagen, das alle Menschen, die Russisch sprechen, zu Bürger:innen Russlands machen soll. Ich will auf keinen Fall eine Bürgerin dieses Landes werden. Ich möchte einfach nicht mehr die Sprache des Besetzers sprechen. Das ist aber eine persönliche Entscheidung, die jede:r für sich selbst treffen muss. 

Wie hat sich eure Beziehung daraufhin verändert?

Wir haben miteinander gesprochen. Sie war schockiert über die Ereignisse und ich konnte nicht verstecken, wie wütend ich über die aktuelle Situation war. Nach einiger Zeit habe ich den Instagram-Post eines ukrainischen Comedians geteilt, in dem er die russische Bevölkerung dafür verurteilte, nicht genug gegen den Krieg zu demonstrieren. Sie schrieb mir daraufhin, warum ich Hass verbreiten würde, und bezeichnete mich als Nationalistin. Später entschuldigte sie sich dafür und versuchte, die Menschen in Russland zu verteidigen: So hätten diese keinen Einblick in das Leben der Leute außerhalb Russlands und verhielten sich aus Unwissenheit so ignorant gegenüber dem Krieg. Ich habe ihr dennoch sehr übel genommen, dass sie mich als Nationalistin bezeichnet hat – das ist ja auch das rhetorische Mittel, das von russischen Staatsmedien in Bezug auf Ukrainer:innen verwendet wird. Außerdem hat sie mir auf Russisch geschrieben, was mich in dem Kontext zusätzlich verärgert hat. 

Meine Hoffnung, dass die junge Generation Russlands mehr Verständnis für die Menschen in der Ukraine aufbringen würde, weil sie vielleicht durch das Internet mehr Zugang zu unabhängigen Medien hat, hat sich in dieser Zeit stark verringert. 

Ich versuche immer genau hinzuhören, welchen Akzent die Personen haben, um daraus zu schließen, woher sie kommen – aus der Ukraine oder aus Russland.“

Was empfindest du, wenn du Menschen in Erfurt Russisch sprechen hörst? 

Ich weiß es nicht. Hier gibt es so viele russische Menschen. In gewisser Weise fühle ich mich deswegen manchmal unsicher. Zurzeit kommen viele Menschen aus der Ukraine nach Erfurt. Dadurch höre ich öfter als davor Menschen auf der Straße Russisch sprechen. Ich versuche immer genau hinzuhören, welchen Akzent die Personen haben, um daraus zu schließen, woher sie kommen – aus der Ukraine oder aus Russland. Vor einem halben Jahr wäre mir sowas noch völlig egal gewesen. 

Gestern saß ich im Café neben einer Person, die ein Sankt-Georgs-Band um den Oberarm trug [Das orange-schwarze Band wird oft als Symbol des Sieges Russlands im Zweiten Weltkrieg gesehen. Es gilt auch als Symbol zur Unterstützung des politischen Kurses der Putin-Regierung]. Die Person saß direkt neben mir. Ich wollte noch nachfragen, warum sie so etwas trägt, aber zurzeit hört man so viel von Gewalt auf den Straßen – da wollte ich keinen Konflikt riskieren. Entweder die Person wusste nicht, was sie da trägt, oder sie unterstützt offen und aktiv all das Schreckliche, was gerade passiert. Es gibt so viele Russ:innen hier. Welche politische Einstellung jemand hat, kann man auf den ersten Blick oft nicht ahnen.

Werden sich die privaten russisch-ukrainischen Beziehungen auf lange Zeit verschlechtern?

Ich habe da eine ähnliche Ansicht wie meine Familie und Freund:innen: Es wird nie mehr so sein, wie es einmal war. 

Mein Großvater ist Ukrainer und meine Großmutter ist Russin. Sie haben sich noch in der Sowjetunion kennengelernt. Ich habe deshalb auch viel Verwandtschaft in Russland und war auch zu Besuch dort. Seit diesem Jahr ist unser Kontakt jedoch abgebrochen. Der Grund: sie unterstützen Putin und den Krieg. Die Schwester meiner Oma hat am Telefon zu ihr gesagt, dass die ukrainische Bevölkerung selbst die Schuld für den Krieg trage.

Uns hat keine:r unserer russischen Verwandten Hilfe angeboten.“ 

Meine Großmutter musste sich bereits 2014 – während der ersten Besetzung unserer Heimatstadt – wochenlang im Keller verstecken. Jetzt passiert das Gleiche: Die russische Armee kommt in eine friedliche Stadt und zerstört das Leben meiner Großmutter – und ihre Geschwister besitzen die Dreistigkeit ihr vorzuhalten, dass sie selbst schuld daran ist? Wie erklärst du das einer Person, die sogar in Russland geboren ist? Uns hat auch keine:r unserer russischen Verwandten Hilfe angeboten.

Wenn du eine russische Person auf der Straße siehst, wärst du bereit, mit ihr zu kommunizieren?

Nicht wirklich. Ich möchte nichts von „Ich bin unpolitisch“ oder „Ich unterstütze den Krieg nicht, das ist nur Putin“ hören. Auch bei meiner ehemaligen Freundin aus Russland geht es mir so: Sie sagt immer, es sei nicht ihre Schuld, dass sie einen russischen Reisepass hat. Das ist ihre einzige Sorge – nicht der Krieg oder die Menschen, die sterben – nur, dass die Welt sie dadurch anders wahrnehmen könnte. Im Januar war das noch anders, da haben wir viel geredet und diskutiert. 

Was müsste eine russische Person tun, damit du dich wieder mit ihr an einen Tisch setzt?

Ich glaube das ist eine Frage der Zeit. Es wird nicht in naher Zukunft passieren. Wenn die Person tatsächlich hilft, den Schaden zu beseitigen, den die russische Armee angerichtet hat, und die vorherige Situation wiederherzustellen, wäre das ein erster Schritt in Richtung gemeinsamen Gesprächs.

Ich habe in den letzten Monaten häufig versucht, mit Russ:innen Kontakt aufzunehmen und habe damit nur negative Erfahrungen gemacht. Ich habe beispielsweise meinem Großonkel in Russland Informationen über den Krieg geschickt, zu denen er und seine Familie keinen Zugang haben. Er hat alle Informationen negiert und sie als Falschinformationen abgetan.

Wie soll ich jemandem die Situation erklären, wenn sich die Leute bewusst dazu entschieden haben, die Informationen nicht hören zu wollen? An diesem Punkt sehe ich wirklich keinen Weg mehr, mit ihnen zu sprechen. Ich will meine Energie nicht länger verschwenden.

Der Zusammenhalt unter uns Ukrainer:innen war immer stark und falls das überhaupt noch möglich war, ist er jetzt noch stärker geworden.“

Hat sich der nationale Zusammenhalt unter Ukrainer:innen in den letzten Monaten verändert? 

Ich habe mich meinem Land schon immer sehr verbunden gefühlt. Besonders hier in Deutschland hat es sich immer sehr vertraut angefühlt, wenn ich Ukrainer:innen auf der Straße getroffen habe – wir haben die gleiche Geschichte, Kultur und Mentalität. 

Der Zusammenhalt unter uns Ukrianer:innen war immer stark und falls das überhaupt noch möglich war, ist er jetzt noch stärker geworden. Dadurch, dass die Ukraine ständig von Russland bedroht war, hat sich ein endloser Kampf für Freiheit etabliert, der unsere Verbundenheit immer weiter wachsen lässt. 

Wie denkst du, ist die Situation für Russ:innen zurzeit?

Ich glaube, viele sind hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt. Das ist fair, denke ich: Menschen kümmern sich in erster Linie um sich selbst. Anfangs dachte ich, dass einfach alle Russ:innen der Propaganda Putins unterlegen sind. Aber jetzt sehe ich es sogar bei Demonstrationen auf deutschen Straßen: viele Menschen wollen diesen Krieg und nehmen es in Kauf, dass Ukrainer:innen sterben. Im Februar lag die Unterstützung Putins bei 71 Prozent und jetzt sind es sogar deutlich mehr.[2] Ich habe keine Illusionen mehr. Meine Freundin aus Kiew und ich sind sogar so weit gegangen, dass wir unseren Kindern einmal verbieten wollen, Russ:innen mit nach Hause zu bringen.

Wenn du Russisch sprichst und einen russischen Pass hast, wünsche ich dir nicht automatisch Schlechtes. Es ist allerdings mein Recht, wütend zu sein, und wenn ich mich von diesem Teil der Welt abkoppeln kann, dann mache ich das.

Tut die deutsche Regierung nur so, als würde sie die politische Situation nicht verstehen?!“

Was wünscht du dir, hinsichtlich des Krieges, von Deutschland und den hier lebenden Menschen? 

[Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde bereits geführt, bevor Außenministerin Annalena Baerbock am 22. April 2022 den Ausstieg aus russischen Ölimporten bis zum Jahresende 2022 verkündete.[3]]

Ermutigt eure Regierung aufzuhören, Öl und Gas von Russland zu kaufen! Deutschland hat den größten Einfluss auf den Stopp von russischen Importen. Als die Ukraine 2008 der NATO beitreten wollte, hat Merkel das verhindert. Im Jahr 2014, als die Krim annektiert wurde, hat Merkel den Start von North-Stream unterstützt. In den letzten Jahren haben Deutschland und Frankreich zusammen die größte Menge an Waffen nach Russland exportiert.[4] Tut die deutsche Regierung nur so, als würde sie die politische Situation nicht verstehen?!

Die Menschen in Deutschland könnten gegen die Öl- und Gasimporte protestieren. Ich glaube, das würde wirklich helfen. 

Und was können russischen Menschen hier in Deutschland tun?

Einfach Ukrainer:innen neben sich helfen – vorausgesetzt, dass die ukrainische Person das will. Diese Art von Hilfe anzunehmen, erfordert in meinen Augen aber unmenschliche Stärke. Auch finanzielle Unterstützung kann erbracht werden.

Wir Ukrainer:innen sind desillusionierter als Europäer:innen.“

Was verstehen Menschen außerhalb der Ukraine nicht von dem Land und dem Konflikt?

Die Art und Weise, wie Nachrichten in Europa verbreitet werden, kommt mir oft sehr naiv vor. Es wirkt, als ob die europäischen Länder immer noch auf der Suche nach Menschlichkeit sind und darauf hoffen, irgendwelche Abkommen mit Russland unterschreiben zu können. Sie verstehen nicht, dass die russische Regierung ihre Versprechen nicht einhält. 
Ich wünschte, die Menschen hier hätten den gleichen Zugang zu Nachrichten, wie wir sie haben. Wenn sie sehen könnten, was wir sehen, wären sie nicht mehr so illusioniert. Wir Ukrainer:innen sind desillusionierter als Europäer:innen, würde ich sagen. 

Außerdem werden hier in Deutschland in Bezug auf den Krieg oft falsche Begriffe herangezogen: Ich habe an der Universität einen Kurs, der über die „ukrainian crisis“ geht – aber das ist nicht unsere Krise. Eine reflektiertere Ausdrucksform wäre besser.

Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?

Es ist nicht so, dass Russland aufhören sollte, zu existieren. Ich glaube aber, das Regime müsste sich ändern. Dort gibt es eine andere Erinnerungskultur, als wir sie haben. Während Deutschland und die Ukraine dem Zweiten Weltkrieg mit „Nie wieder“ entgegenstehen, gilt in Russland „Wir können das wiederholen“. 

Unter Putin ist Russland noch militarisierter geworden, als es sowieso schon war. Seit er an der Macht ist, finden am neunten Mai zum „Tag des Sieges“ wieder regelmäßig Militärparaden statt, um an das Ende des Zweiten Weltkriegs zu erinnern – mit Aufmärschen von Soldaten und Panzern. Die Geschichtsschreibung, auf die sich in Russland bezogen wird, ist verfälscht. Eine große Aktion des Reflektierens und Geschichte-neu-Schreibens müsste starten: Alle Archive, die die Sowjetunion damals zum Zweiten Weltkrieg angelegt hat, sind immer noch vertraulich und nicht für die Öffentlichkeit einsehbar. Diese Erinnerungen wären aber ein wichtiger Schlüssel, um der Bevölkerung zu zeigen, was während des Krieges passiert ist: dass auch von sowjetischer Seite Verbrechen begangen wurden.

In der Ukraine wurde 2015 der „Tag des Sieges“ in „Tag des Sieges gegen den Nationalsozialismus“ umbenannt. Zudem feiert die Ukraine nun nach europäischem Vorbild den 8. Mai als Tag der Erinnerung und Versöhnung.

Es würde allen weiterhelfen, wenn sich das Regime in Russland ändert: sowohl den Leuten vor Ort als auch den Menschen in den Nachbarländern, die sonst in ständiger Angst vor einer Invasion leben müssen. 

Eine abschließende Frage: Wie sehen deine Zukunftspläne aus?

Als ich vor einem halben Jahr hierhergezogen bin, fand ich es interessant, ein paar Jahre in Deutschland zu leben. Aber meine Prioritäten haben sich in den letzten Monaten sehr verändert. Viele Menschen, die im Ausland waren, kehren jetzt schon wieder in die Ukraine zurück. Ich würde gerne zurück in die Ukraine gehen und schauen, was ich dort bewirken kann. 

Titelbild: Judith Beyer

*Name von der Redaktion geändert.


Quellen zu Eingen Aussagen:

[1] Zeitpunkt des Interviews: 04.04.22

[2] Statista Research Department: Befürworten Sie das Handeln von Wladimir Putin als Präsident (Premierminister) Russlands?, 02.05.22, URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1293274/umfrage/umfrage-zu-den-zustimmungswerten-fuer-wladimir-putin-in-russland/ [Zugriff 20.05.22].

[3] Tagesschau: Baerbock zu Ölimporten, 20.04.22, URL: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/baerbock-riga-101.html [Zugriff am 05.05.22].

[4] Dpa: Merkel stellt sich beim Gipfel gegen Bush. In: Welt Online, 02.04.08, URL: https://www.welt.de/politik/article1863934/Merkel-stellt-sich-beim-Gipfel-gegen-Bush.html [Zugriff am 19.05.22]. 

Knight, Ben: Die Geschichte des Nord-Stream-Projekts. In: Deutsche Welle, 25.07.22, URL: https://www.dw.com/de/die-geschichte-des-nord-stream-projekts/a-58634008 [Zugriff am 16.05.22]. 

Brillaud, u.a.: EU-Mitgliedsstaaten haben auch nach dem Embargo von 2014 Waffen nach Russland exportiert, in:Investigate Europe, 17.03.22, URL: https://www.investigate-europe.eu/de/2022/eu-staaten-exportierten-waffen-nach-russland/ [Zugriff am 15.05.22].

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