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Wir, der Krieg und unsere Freundschaft

Wie sich eine russisch-ukrainische Beziehung seit der Invasion verändert hat

(2/2)

In dieser zweiteiligen Interviewreihe berichten eine ukrainische und eine russische Studentin der Uni Erfurt von ihren persönlichen Erfahrungen rund um den Krieg in der Ukraine. Im Vordergrund steht die Frage, wie es ist, den Entwicklungen im Heimatland von Deutschland aus zuzuschauen und wie sich das Verhältnis zwischen Russ:innen und Ukrainer:innen in den letzten Monaten verändert hat. Es handelt sich um persönliche Erfahrungsberichte, die deshalb nicht auf alle Menschen bezogen werden können. Die Aussagen der Interviewten spiegeln nicht die Meinung der Redaktion wider. Das Ziel ist vielmehr, einen Einblick in mögliche Gefühlsleben der Menschen zu geben, die vom Krieg betroffen sind.

Teil 2: Die russische Studentin Alexandra Akhmatova* erzählt, warum sie den Kontakt zu ukrainischen Menschen in Erfurt meidet und warum das russische Volk nicht als Einheit gesehen werden kann.

Alexandra Akhmatova (23) wuchs in Ust-Dscheguta im russischen Kaukasus auf und zog im Alter von zwölf Jahren mit ihrer Familie nach Moskau. Neben dem Journalismus-Studium arbeitete sie bei einer gemeinnützigen Organisation, die Projekte zur sexuellen Aufklärung in Russland durchführt.  Vor einem halben Jahr ist sie nach Erfurt gezogen, um ihr Master-Studium zu beginnen.

Du warst gerade in Russland, als du vom Einmarsch Russlands in die Ukraine erfahren hast. Was war deine erste Reaktion?

In den Semesterferien habe ich meine Familie in Moskau besucht. Als ich am 24. Februar gerade beim Friseur war, wurde ich per Smartphone darüber benachrichtigt, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist – damals waren noch nicht alle unabhängigen Nachrichtensender in Russland gesperrt. Ich war schockiert und fragte mich, ob das real sein konnte.

Zwar war schon seit November bekannt, dass Putin Truppen an der ukrainischen Grenze positioniert hatte, aber ich war leichtgläubig davon ausgegangen, dass ein Einmarsch nicht geschehen würde. Meine Hoffnung war, dass die amerikanische Regierung in ihrer Berichterstattung übertrieben hatte, um die russische Regierung in schlechtes Licht zu rücken. Bis zum Ende dachte ich: Das wird nicht passieren.

An diesem Tag prasselten die Nachrichten nur so auf mich ein. Jede Sekunde gab es neue Informationen – es wurde schlimmer und schlimmer. Dann verkündete Großbritannien einen Landestopp für russische Flugzeuge. Ich befürchtete, dass die EU diesem Vorbild folgen würde, und versuchte direkt ein Flugticket zurück nach Deutschland zu buchen. Alle Tickets waren sofort ausverkauft, weil so viele Menschen ausreisen wollten. Einen Tag später fand ich ein Flugticket für den 25. Februar. Meine Mutter hat mich zum Flughafen gebracht. Einerseits war sie traurig, dass ich früher abreiste, andererseits war sie froh darüber, dass ich die Chance hatte, das Land zu verlassen.

All die Kultur, die mir in Russland vermittelt wurde, hat in den letzten Monaten ihre Bedeutung verloren“

Wie beeinflusst der Krieg dein Alltagsleben?

In den zwei Wochen nachdem ich aus Russland zurückgekommen bin, habe ich jeden Tag geweint. Ich konnte nichts tun – weder arbeiten noch studieren. Ich saß den ganzen Tag nur in meinem Zimmer und habe die Nachrichten gelesen: gescrollt, gelesen, gescrollt, Videos angeschaut, gescrollt. Ich hatte das Gefühl, alles auseinanderfallen zu sehen. All die Kultur, die mir in Russland vermittelt wurde, hat in den letzten Monaten ihre Bedeutung verloren. Uns wurde immer gesagt, wir sollen nett, höflich, empathisch und rücksichtsvoll sein. Mit dieser Mentalität kannst du in Russland aber nicht mehr glücklich leben. 

Oft habe ich auch mit meiner Familie und meinen Freund:innen telefoniert. Es hilft zu wissen, dass es noch andere russische Personen gibt, die den Krieg aufs Schärfste verurteilen und Probleme damit haben, mit der aktuellen Situation klarzukommen. Manche meiner Freund:innen, die auch in anderen sozialen Kreisen als ich unterwegs sind, erzählen mir, dass ich die einzige Person bin, mit der sie offen ihre Meinung teilen können. Alle anderen in ihrem Umfeld seien wie Zombies – indoktriniert von der russischen Propaganda. Meine Freund:innen halten sich dann meistens zurück, um nicht in Streitgespräche involviert zu werden. Durch dieses Thema können Freundschaften und Familien auseinanderbrechen – ich wünschte, die Menschen könnten offener darüber reden.

Reagieren die Menschen – aufgrund deiner Staatsangehörigkeit – anders auf dich als früher?

Als ich zurück nach Deutschland kam, hatte ich Angst, mich in Gesprächen dafür rechtfertigen zu müssen, aus Russland zu kommen. Aber die Sorge war glücklicherweise ungerechtfertigt. Zwar stellen mir manche Leute Fragen bezüglich des Krieges, aber ich habe das Gefühl, sie möchten nur verstehen, wie eine Person denkt, die aus Russland kommt.

Ich habe auch Glück mit meinem Umfeld: Mein Studiengang ist sehr international. Wir sind Studierende aus allen möglichen Ländern. Gerade die, die selbst aus autokratischen Systemen kommen – wie zum Beispiel meine Mitstudierenden aus China – können gut nachvollziehen, wie es ist, in einer Autokratie zu leben. Manche haben aber auch Schwierigkeiten, sich in meine Lage hineinzuversetzen, weil sie in Deutschland aufgewachsen sind. Da kommen öfter Fragen, wie: „Warum könnt ihr nicht einfach gegen den Krieg demonstrieren?“

Vielleicht sind die Menschen aus Deutschland auch die, die am ehesten nachvollziehen können, wie es ist, aus dem Land des Aggressors zu kommen.“

Wie fühlt es sich an, in dieser Zeit hier in Deutschland zu sein und die Ereignisse nur aus der Ferne mitzubekommen?

Es fühlt sich so an, als hätte ich unser Familienticket erhalten, um der ganzen Scheiße zu entkommen. Als ich am 25. Februar in Erfurt ankam, hatte ich nur die Frage im Kopf: Warum ich und nicht meine Familie? Ich habe mich schuldig gefühlt, weil ich dieser Misere entkommen war, während meine Familie keine Chance hatte, woanders hinzuziehen. Meine Eltern sprechen kaum Englisch und ihr ganzes Leben spielt sich in Moskau ab. Es ist schwer für sie, zu emigrieren.

Auch heute noch ist das Erste und Letzte, was ich am Tag mache, die Nachrichten zu lesen. Manchmal rege ich mich mehr auf, manchmal weniger. Glücklicherweise habe ich durch meinen Freund eine gute emotionale Stütze – ich wüsste nicht, was ich ohne ihn tun würde.

Ich habe allgemein das Gefühl, dass die Deutschen um mich herum sehr unterstützend und rücksichtsvoll sind. Vielleicht sind die Menschen aus Deutschland auch die, die am ehesten nachvollziehen können, wie es ist, aus dem Land des Aggressors zu kommen. Mich hat es sehr gefreut, dass der deutsche Bundeskanzler vor einiger Zeit dazu ermutigt hat, zwischen Putin und dem russischen Volk zu unterscheiden.

Hast du viel Kontakt zu Menschen aus der Ukraine? Hat sich euer Verhältnis verändert in den letzten Monaten?

In Thüringen habe ich viel mehr Menschen aus der Ukraine kennen gelernt als in Moskau. Ich kann die Beziehungen zu zwei unterschiedlichen Ukrainerinnen als Beispiel geben, weil sie sehr verschiedene Umgangsformen repräsentieren. Mit der einen bin ich noch gut befreundet, mit der anderen nicht mehr.

Dann zuerst zu der, mit der die Freundschaft zerbrochen ist: Was war da der Hintergrund?

Wir haben uns gut verstanden. Wir haben über Politik diskutiert und sie war sehr überrascht und schockiert, wie unterschiedlich das Leben in Russland und der Ukraine ist. Während man in der Ukraine einen Aufstand auf der Straße organisieren kann, ist das in Russland nicht möglich. Sie fragte immer: Warum protestiert ihr nicht gegen die Regierung? Ich versuchte zu erklären, dass das in Russland schwerwiegende Konsequenzen hat. Du landest im Gefängnis und deine Familie muss ihr Leben lang arbeiten, um dich wieder freizukaufen – würdest du das deiner Familie wünschen?

Sie konnte mich trotzdem nicht verstehen und ich glaube, sie wollte mich auch nicht verstehen. Ich hatte das Gefühl, sie wolle mir nur zeigen, dass das ukrainische politische System besser ist als das russische. Ich dachte mir: Ich bin froh, dass ihr die Möglichkeit habt, frei eure Meinung zu äußern, ohne dafür gefoltert zu werden, bei uns ist das leider nicht so.

Wie hat sich eure Beziehung weiter verändert?

Mit der Zeit fing sie an, fundamentalistischere Ansichten zu vertreten und alle Menschen in Russland für den Krieg verantwortlich zu machen. Am Ende eskalierte die Situation als sie einen Instagram-Post teilte, in dem die russische Bevölkerung scharf dafür verurteilt wurde, nichts gegen den Krieg zu unternehmen. Der Post war voller Hassrede: „Russen, schweigt nicht! Sagt, dass ihr [beleidigendes Wort auf Ukrainisch, vergleichbar mit „Idioten“] seid!“. Ich dachte: Wie können wir befreundet sein, wenn sie Menschen aufgrund ihrer Nationalität definiert? Wie soll ich mich dabei fühlen? Warum verbreitet sie diese Hassrede? Nicht, dass ich persönlich beleidigt wäre. Aber ich hatte wirklich Angst, dass sich diese Art von Einstellung in unserer Freundesgruppe ausbreiten könnte. Denn diese Kriegszeit ist wirklich schwierig für alle. Inzwischen hat sie mich auf allen sozialen Medien blockiert.

Aber ich verstehe dieses Konzept der kollektiven Schuld nicht. Jede individuelle Person hat doch ihre eigenen Ansichten?

Viele Leute tun so, als wären sie unpolitisch, ich glaube aber das ist nur ein Verteidigungsmechanismus.“

Laut Umfragen findet Putin große Unterstützung in seinem Volk. Meinst du, ihre Einstellung gegenüber Russ:innen könnte daran liegen?

Wie diese Umfragen durchgeführt werden, ist ein anderes Thema. Ich glaube nicht, dass diese Zahlen grundlegend falsch sind, aber in Russland können Sozialwissenschaften nicht unabhängig von der Regierung betrieben werden. Die offiziellen Agenturen, die diese Umfragen umsetzen, stehen auf Seiten der Regierung. Vereinfacht fragen sie: „Unterstützt du die Spezialoperation in der Ukraine oder möchtest du ins Gefängnis kommen?“. Natürlich wird das nicht genauso formuliert, aber die Menschen haben Angst davor, offen ihre Meinung zu äußern. Viele Leute tun so, als wären sie unpolitisch, ich glaube aber das ist nur ein Verteidigungsmechanismus. Auch vor dem Hintergrund der UDSSR: Die Menschen sind es nicht gewohnt, dass ihnen Rechte im politischen Bereich zustehen. Sie halten sich dann lieber komplett raus, um ihr Leben „normal“ weiterleben zu können.

Es ist schwer zu sagen, wie viele Leute Putin wirklich unterstützen. Im normalen Alltagsleben, wenn die Menschen das Gefühl haben, unbeobachtet zu sein, beschweren sich viele über ihn.

Natürlich gibt es aber auch zahlreiche Menschen, die tatsächlich hinter Putin stehen. Ich möchte deren Ansichten nicht rechtfertigen, weil ich deren Situation nicht kenne. Es gibt aber große Unterschiede zwischen der Stadt- und der Landbevölkerung, weil die Ressourcen sehr ungleichmäßig verteilt sind: Die Landbevölkerung ist im Durchschnitt deutlich ärmer und die Schulbildung ist schlechter als in den Städten. Die Hauptinformationsquelle dieser Menschen ist das Fernsehen, das wiederum von der Regierung kontrolliert wird.

Wie schätzt du die Perspektive deiner ukrainischen, ehemaligen Freundin auf euren Konflikt ein?

Ich denke, sie ist sehr wütend und leidet extrem unter der Situation. Ich versuche mich in sie hineinzuversetzen, fühle mich ihr gegenüber aber auch schuldig. Ich habe ein Interview mit einer ukrainischen Geflüchteten gesehen, die davon erzählt, dass es sich anfühlt als würde sie mit Verwandten von Mörder:innen sprechen, wenn sie sich mit einer russischen Person unterhält.

Und wie war die Situation mit der anderen Ukrainerin, mit der du nach wie vor befreundet bist?

Meine ehemalige Mitbewohnerin hier in Erfurt ist Ukrainerin. Im Februar, als alles richtig losging, war sie gerade bei ihrer Familie in Kiew. Sie entschied sich dafür dortzubleiben. Eigentlich wollte sie nach Erfurt zurückkommen, um ihr Studium abzuschließen. Vor wenigen Wochen bat sie mich aber darum, all ihre Sachen zusammenzupacken, um das Zimmer für eine:n Nachmieter:in freizumachen. Ich sollte ihre wichtigsten Sachen in eine Tasche packen und den Rest an Bekannte oder Freunde verschenken. Ich fühlte mich überfordert mit der Situation, so über das Leben einer anderen Person entscheiden zu können. Am Ende habe ich all ihre Sachen in meinem Zimmer behalten. Ich warte darauf, dass sie zurückkommt.

Wir haben am Telefon über unsere Situation geredet und ich habe ihr erzählt, dass es sich anfühlt als würde meine Welt zusammenbrechen. Absurderweise war sie am Ende diejenige, die mich getröstet hat und nicht andersherum. Ich fühlte mich schuldig dafür, obwohl das natürlich ihre freie Entscheidung war. Sie hat mir gesagt, dass sie der Meinung ist, dass man einen Unterschied zwischen den russischen Menschen und der Regierung machen müsse. In so einer schrecklichen Situation noch so offen zu sein, zeigt ihre innere Stärke. Hier sieht man, dass die russisch-ukrainischen Beziehungen im Privaten von Person zu Person variieren können.

Ich hielt mich zurück, weil ich Angst hatte, sie würde bemerken, dass ich Russin bin.“

Was empfindest du, wenn du in Erfurt Ukrainer:innen triffst?

Ich hatte da eine Situation im Zug nach Ilmenau: Eine Frau saß vor mir und ich hörte, dass sie Russisch sprach. Als der Fahrkartenkontrolleur kam, zeigte sie ihm ihren ukrainischen Ausweis. Ich habe mich gefragt, ob ich sie ansprechen sollte. Vielleicht, dachte ich, braucht sie Unterstützung und ich kann ihr irgendwie weiterhelfen. Gleichzeitig hielt ich mich zurück, weil ich Angst hatte, sie würde bemerken, dass ich Russin bin. Vielleicht hat sie viel Leid erfahren und möchte nicht erneut mit Russ:innen in Kontakt treten. Am Ende tat ich so, als hätte ich nicht bemerkt, dass sie Russisch sprach und sagte nichts. Ich weiß nicht, wie ich auf die Leute zugehen soll, weil ich schon eine gewisse Spannung spüre. Ich verstehe, dass sie sehr wütend sein können – sie haben alles in ihrem Leben verloren. Vor ein paar Monaten wäre ich noch gleichgültig gewesen, hätte ich eine Person Russisch sprechen hören.

Wie könnte sich die Beziehung zwischen russischen und ukrainischen Bürger:innen verbessern?

Ich glaube, es braucht einen strukturellen Wandel. Natürlich kann jede:r auf individueller Ebene versuchen zu helfen. Dabei stellt sich die Frage, ob die Menschen überhaupt die Hilfe einer russischen Person annehmen möchten. Ich habe gehört, dass es viele ukrainische Geflüchtete gibt, die sich freuen, wenn sie mit den freiwilligen Helfer:innen auf Russisch reden können – andere wollen das auf keinen Fall.

Hat sich der nationale Zusammenhalt unter Russ:innen in den letzten Monaten verändert?

Ich würde sagen, die Russ:innen sind kein vereinigtes Volk. Zumindest habe ich mich persönlich nie mit den anderen Russ:innen als Einheit gesehen. Mein ganzes Leben schon hasse ich die russische Regierung. In der Schule gab es aber nicht viele andere Kinder, die oppositionelle Positionen vertraten.

Während 2020 in Belarus eine große Menge an Menschen zusammen auf die Straße ging, um gegen die Regierung zu demonstrieren, gibt es in Moskau keine solche Einheit. Die einzelnen Belaruss:innen wussten, sie würden am Ende nicht alleine protestieren. In Russland fühlt es sich für mich dagegen oft so an, als wäre ich mit meinen Ansichten die Einzige. Bei uns sind Straßenproteste daher eher unpraktisch – sie werden nicht von der großen Masse getragen. Ich glaube, es macht mehr Sinn, sich in lokalen, zivilgesellschaftlichen Initiativen zu engagieren, um etwas zu bewirken. Viele Menschen haben NGOs und andere Organisationen gegründet, um ihren politischen Aktivismus auszuleben.

Was wünscht dir von russischen Menschen?

Als ich die Videos von jungen Studierenden in Moskau gesehen habe, die mit dem „Z“-Symbol den russischen Angriffskrieg befürworten, fand ich das beängstigend. Ich wünschte, diese Menschen wären in der Lage dazu, zu sehen, welche Ähnlichkeiten die Situation mit der Lage während des Dritten Reichs hat – das „Z“ sieht sogar ein bisschen aus wie ein Hakenkreuz. Das müssen die doch sehen! 

Viele europäische Länder versuchen den Konflikt durch die Demokratie-Brille zu analysieren.“

Was verstehen Menschen außerhalb Russlands nicht von dem Land und dem Konflikt?

Ich glaube die größten Falschannahmen rühren daher, dass viele Menschen nicht verstehen, wie Autokratien funktionieren. Bei uns ist alles mit der aktuellen politischen Ideologie verbunden. Die symbolische Kraft und die nationalen und kulturellen Hegemonien sind weit verbreitet. Sogar die Kirchen laufen Hand in Hand mit Putin: Der Patriarch Kirill I. (Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche) unterstützt den Angriffskrieg – und viele Menschen folgen seiner Ideologie. Wenn eine geistliche Person behauptet, es handele sich um eine heilige Operation, dann glauben das viele Menschen. In Russland gibt es eine große Militärkirche, in der Soldaten, die 2014 im Donbass gekämpft haben, wie Heilige auf Gemälden abgebildet sind. Die Menschen wachsen viel militarisierter auf als in anderen Ländern. Wir mussten schon in der Schule als kleine Kinder zu militärischen Paraden aufmarschieren.

Ich glaube, viele europäische Länder versuchen den Konflikt durch die Demokratie-Brille zu analysieren. Die Sanktionspakete würden in Demokratien funktionieren, weil dort das Wohlbefinden der Menschen eine Bedeutung hat. In Autokratien ist der Regierung die Bevölkerung egal. Wenn man sich die Liste der Sanktionierten anschaut, sind da viele Namen, aber nicht die der großen und mächtigen Oligarch:innen – nur die gewöhnlichen Leute leiden darunter.

Ich glaube außerdem, dass viele Menschen in Russland nicht verstehen, dass Putins Verhalten Schuld an den verschlechterten Lebensbedingungen ist. Sie sehen sich viel mehr in ihrem Urteil bestätigt, dass der Westen Russland boykottiert.

Selbst mein Vater glaubt, dass ich hier in Deutschland wie eine Gefangene lebe. Er denkt, dass sich Europa selbst eingesperrt hat durch all die Sanktionen. Er hat mir neulich geschrieben, dass er sich Sorgen um mich macht. Das ist so absurd!

Ich wünsche mir, dass das aktuelle russische Regime zum Fall kommt.“

Was würdest du dir, hinsichtlich des Krieges, von Deutschland und den hier lebenden Menschen wünschen?

[Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde bereits geführt, bevor Außenministerin Annalena Baerbock am 22. April 2022 den Ausstieg aus russischen Ölimporten bis zum Jahresende 2022 verkündete.[1]

Ich bin keine Politikwissenschaftlerin, aber aus meiner Perspektive wäre es das Richtige, wenn alle Länder ein Embargo gegen das russische Öl und Gas verhängen würden. Das sind die Ressourcen, über die die Menschen mit Macht in Russland verfügen. Diese Sanktionen würden die Regierung wirklich treffen, im Gegensatz zu denen, die auf die zivilen Bürger:innen abzielen. Ich verstehe aber natürlich auch, dass Deutschland sehr abhängig von den russischen Importen ist, und die Entscheidung nicht leicht zu treffen ist.

Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?

Ich wünsche mir, dass das aktuelle russische Regime zum Fall kommt. Dass Putin und die Leute um ihn herum einen Gerichtsprozess durchlaufen und ins Gefängnis kommen. Die Leute an der Spitze wissen, was sie tun. Sie wissen ganz genau, dass sie Menschen töten.

Viele Menschen, die in der UdSSR bedeutende Positionen innehatten, haben heute noch viel Macht in Russland. Auch beim russischen Militär hat sich nach 1990 kaum etwas verändert. Ich würde mir wünschen, neue politische Einstellungen in der Regierung zu finden – jüngere Menschen. Vielleicht mit linkeren und demokratischeren Ideen. Aber auch ältere: Ich hatte viele gute oppositionelle Professor:innen, die Putin nicht unterstützt haben.

Aus der studentischen Perspektive wäre es auch schön, durch die Universität in Deutschland mehr psychologische Unterstützung zu bekommen – nicht nur für die Studierenden aus der Ukraine und Russland, sondern aus allen Ländern. Solche Konflikte können jeden im Alltagsleben sehr beeinflussen.

Ich habe keine Zukunftspläne mehr, aber ich wünsche mir ein besseres Leben für meine Familie.“

Was möchtest du nach deinem Master-Abschluss an der Universität Erfurt machen?

Vor ein paar Monaten wäre ich mir noch nicht sicher gewesen, ob ich in Deutschland oder der EU bleiben würde. Ich hatte diese Idee in meinem Kopf, in Russland etwas verändern zu können. Ich wollte versuchen, über Bildung gegen die Ideologie der Regierung anzukämpfen. Jetzt wurden in Russland aber neue Gesetze eingeführt, die es für NGOs unmöglich machen, gute Bildungsarbeit zu leisten.

Ich habe keine Zukunftspläne mehr, aber ich wünsche mir ein besseres Leben für meine Familie. Ich will nicht mehr in Russland leben und würde es bevorzugen, wenn meine Familie zu mir kommen könnte. Auf der anderen Seite möchte ich die Menschen, die so denken wie ich, nicht alleinlassen in Russland. Viele Menschen dort – wie zum Beispiel meine Mutter – haben Depressionen, weil sie nicht gegen die Regierung ankommen können.

Titelbild: Valentin Junghanß

*Name von der Redaktion geändert


[1] Tagesschau: Baerbock zu Ölimporten, 20.04.22, URL:

 https://www.tagesschau.de/ausland/europa/baerbock-riga-101.html [Zugriff am 05.05.22].

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