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Lobeshymne auf Erfurt

Ich wurde so oft gefragt, warum ich mich als sogenannte „Wessi“ für Erfurt und damit für den Osten entschieden habe, dass ich deshalb schon oft meine Wahl hinterfragen und begründen konnte. Wohlwissend, dass ich erst 5 Wochen hier bin, also fast keine Urteilsbasis habe, zählt der erste Eindruck vielleicht doch auch ein bisschen mit rein (Tinder beweist’s – bis zum 1. Treffen zumindest).

Erfurt wurde wohl von ca. 10.000 Studierenden nach rechts geswiped und wie es scheint, konnte es eine Vielzahl von ihnen überzeugen. Was macht es also besser als “Minga”, die Stadt der (besten) Brezn? Warum freiwillig statt München das Obazda-lose-Exil wählen, in dem ich trotz dialektfreiem Deutsch für meine Aussprache von Kircccchhe ausgelacht werde?

Was Erfurt unschlagbar macht

Es gibt eine Menge Gründe, die für Erfurt sprechen, gerade im Vergleich zu München. Allein aus dem große-Großstadt zu kleine-Großstadt-Aspekt heraus. Das riesige Angebot an Bars, Clubs, Kulturangeboten, veganen Restaurants, Zahnärzt:innen, Friseur:innen, Buslinien in München ist schnell überfordernd. Dann doch lieber die Szenekneipen samt Öffnungszeiten kennen und wissen, ob der Besuch sich auch um zwei Uhr nachts noch lohnt.

Die Innenstadt ist nicht nur ein Nice-to-Have, wenn da mal Gäste sind, die herumgeführt werden wollen, sondern tatsächlich mit inbegriffen im alltäglichen Leben. Ich liebe es, dass die Größe der Stadt hergibt, sich tatsächlich als Teil von ihr zu begreifen und das Gefühl zu haben, von Veränderungen (positiv wie negativ) betroffen zu sein und sogar darauf Einfluss nehmen zu können. Ich laufe hier nicht blind durch die Straßen wegen des Überangebots an Litfaßsäulen, Bildschirmen in U-Bahnen und Werbeplakaten. Meistens lohnt sich hier der aufmerksame Blick, weil interessante Veranstaltungen warten, die der Stadtgröße wegen einfach zu erreichen sind und deshalb die niedrigschwellige Möglichkeit besteht, sie tatsächlich wahrzunehmen. Ich kann feiern gehen, von Bar zu Bar hoppen, ins Theater (#kultursemesterticket!), zu Vorträgen und bin egal um wie viel Uhr mit dem Fahrrad in Kürze zuhause. Das macht die Stadt und ihr gesamtes Angebot um einiges attraktiver. 

Aber – seien wir ehrlich – diese Gründe sprechen deshalb auch für alle anderen 101 unter-300.000-EinwohnerInnen-Städte in Deutschland.

Warum ist Erfurt also einzigartig? Wir nähern uns langsam dem Kern der Sache und einer Schlüsseleigenschaft der hiesigen Landeshauptstadt. Es geht schließlich nicht nur darum, was die Stadt mitbringt, sondern was sie aus ihren EinwohnerInnen macht. Klar, scheinbar kann ich hier ein vielfältiges Angebot an Bildung, Kultur und Essen wahrnehmen, aber wo werde ich denn in meinen Fähigkeiten gefördert? Was kann mir Erfurt noch beibringen? Wo fordert es mich und hilft mir, über mich selbst hinauszuwachsen?

Richtig, es geht ums Fahrradfahren. Dass Erfurt nicht die fahrradfreundlichste Stadt ist, das wissen wir. Ich unterstelle dieser Tatsache jetzt aber einfach mal eiskaltes Kalkül, welches uns BürgerInnen zu fähigeren Menschen machen soll. Ich sehe mich diese Stadt als Fahrradprofi verlassen. Fahrradwege? Das wäre ja zu einfach. Stattdessen lerne ich hier in gewagten Slalomlinien Fußgänger:innen zu umfahren, ohne sie umzufahren (entschuldigt dieses schlechte Wortspiel), zu teilen – wie es diverse gemeinsame Wege von uns verlangen – und natürlich die Königsdisziplin: Tramgleise zu kreuzen.

How to: Tramgleise kreuzen

Auch wenn ich mich mit einem harten Lernprozess konfrontiert sehe, der bestimmt den ein oder anderen Sturz und die ein oder andere Auseinandersetzung mit mehr oder weniger netten FußgängerInnen nach sich ziehen wird, werde ich lernen, wie ich mich in jeder Lebenslage auf den Rädern halte.

Ich werde lernen, mein Recht aufs Fahrradfahren gegenüber Regenschirmen und nörgelnden SeniorInnen zu verteidigen. Ich werde lernen, einzugestehen und nachzugeben, wenn ich im Unrecht bin. Ich werde lernen, hitzige Debatten mit Fremden zu führen und meine Kommunikationsskills schulen. Mich wird nichts mehr aus dem Gleichgewicht bringen, keine Höhen und Tiefen werden mich mehr zu Fall bringen können. Egal, ob sie frontal wie Bordsteinkanten auf mich zukommen oder sich langsam und unbemerkt von der Seite anschleichen wie kurvige Tramgleise. Ich werde zu einem besseren Menschen werden, der allen Hürden gewachsen ist – komme was wolle. Ich werde lernen, mit dem Tempo des Lebens – der mich verfolgenden Tram – Schritt zu halten oder ihm voraus zu sein. Und holt mich die Tram doch ein, so wird sie mich dennoch nicht überrollen. Auch diese Erkenntnis wird mir neue Kraft und Zuversicht schenken.

Wenn dann doch mal alles schiefgeht, kann ich immer noch auf den Zug aufspringen und trotzdem am Ziel ankommen. Thoska sei dank, erweist sich dann die Feindin Straßenbahn doch zu einer erfreulichen Helferin in der Not.

Welche Stadt kann damit aufbieten? Welcher Stadt liegt die Weiterentwicklung und der Lernerfolg ihrer BürgerInnen so sehr am Herzen? Ich bin auch nach 5 Wochen Training und in Gleisen hängenden Reifen schon über meine Grenzen hinausgewachsen und nicht gefallen. Danke, Erfurt!

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