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Zwinkernde Ampeln

Oder: Wie ein nächtlicher Heimweg durch Erfurt mir Zugehörigkeit vermittelt hat

Wenn es dunkel ist, scheinen die Lichter, die auf die Straße leuchten, zu schweben. Jeder nächtliche Schritt aus dem Hauptbahnhof heraus mit Blick nach oben macht mich wegen der zwei schwebenden Kreise aus Lampen verschiedener Töne glücklich über dieses visuelle Wunder. Halterungen, Drähte, Seile, Gestänge verschwinden im schwarzen Himmel dahinter. Die Leipziger Straße stadtauswärts den Galgenberg hinauf bietet gerade bei Wind ein ungewohnt anmutendes Spektakel: Die über die Straße gespannten Lampen tanzen in den Böen und wechseln zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, je nachdem in welche Richtung sie geweht werden. Für die Betrachtenden ergibt sich hieraus ein Straßenzug mit tanzenden Lichtpunkten im Nichts. Auf einem tagsüber sehr befahrenen Teerstreifen macht seine nachts gähnende Leere das Szenario komplett.

Mein nächtlicher Heimweg führt mich regelmäßig an dieser Straße entlang und ich genieße es, mich durch den beschriebenen Anblick von dem anstrengenden Anstieg ablenken zu lassen. In Erfurt ist es schwer, lange nach Hause zu laufen. Meine 10 bis 15 Fahrradminuten bewegen sich wahrscheinlich schon am Maximum. Abhängig vom Wetter sind es aber mitunter die besten Fahrradminuten, die das Fahrradleben in Erfurt zu bieten hat. Die Straßen sind leer, was mir das ständige auf-den-Gehsteig-rauf- und vom-Gehsteig-runter-Fahren erspart, vom holprigem Kopfsteinpflaster in den Ausfahrten und großen FußgängerInnengruppen ganz zu schweigen. Die Straßen gehören allein den Menschen, die zu nächtlichen Uhrzeiten noch unterwegs sind – und das sind in Erfurt nicht viele. Hierdurch bedingt gibt es auf der Zielgeraden auch keine roten Ampeln mehr, kein Anhalten und Autos vorbeilassen. Die Ampeln sind abgestellt. Das Treiben und die Geschäftigkeit hat sich von der Dunkelheit bedecken und einschläfern lassen, soweit, dass kaum ein Fenster mehr erleuchtet ist.

Meine erste Annahme, ich sei allein, stellt sich nicht immer als richtig heraus. Das blinkende, gelbe Licht der ausgestellten Ampeln auf meinem Weg begleitet mich über mehrere Kreuzungen hinweg. Es ist niemand hier und doch werfen sie ihren gelben Schein in regelmäßigen Abständen in die Nacht. Kontinuierlich, unaufhörlich, immer wieder von vorne. Sie vermitteln mir ein wohliges Gefühl, von dem ich erst nicht weiß, woher es kommt. Je nach Uhrzeit werde ich auch von einer hell erleuchteten Lichterkette überholt, die neben dem Wind in meinen Ohren die einzige Geräuschquelle ist: eine leere Tram auf ihrer letzten Fahrt. Nicht selten überkommt mich Mitleid für die TramführerIn, die so spät in der Nacht noch eine scheinbar überflüssige Strecke, gesäumt von leeren Haltestellen zur Aufgabe hat, bevor der Feierabend ruft. Ich bin irritiert von der offensichtlichen Überflüssigkeit und der offenbar ziellosen Adressierung dieser nächtlichen Angebote.

Plötzlich ergreift mich ein immenses Zugehörigkeitsgefühl. Die Ampeln blinken für mich (und mit mich meine ich mich und alle anderen Menschen, die statt meiner in dieser Situation sein könnten). Wie ein kleines Kind freue ich mich an jeder nächsten Kreuzung, dass sie mich auch hier vor Gefahren warnen. Sie sagen: „Es ist Nacht, ich weiß. Da fahren nicht mehr so viele Autos. Ich wollte dich nur daran erinnern, dass es trotzdem vorkommen könnte, und dass es eventuell vor dir fahren dürfte. Gib auf dich Acht und fahr vorsichtig!“. Sie blinken für jede Person, die hier vorüber geht und übernächtigt einmal zu wenig auf die Straße schaut. Sie sind eine liebevolle Erinnerung, die in eben jener Situation an mich gerichtet ist. Die mich meint. Eine Materialisierung von Gesellschaft, die ein Verhältnis zwischen den UrheberInnen dieses Lichts und dessen AdressatInnen kreiert. Sei sie ein Geben und Nehmen, ein Erschaffen und Konsumieren, ein Bedenken und Bedacht werden. Ich begreife etwas, das vorher schon offensichtlich, mir aber nicht bewusst war. Was tagsüber selbstverständlich erscheint, wird nachts ein bewusst bereitgestelltes Angebot. Was tagsüber unpersönlich zur Verfügung steht, ist nachts zielgerichtet adressiert und einzig allein seinen ausgewählten RezipientInnen vorbehalten.

Anwenden und staunen lässt mich diese triviale Erkenntnis seitdem bei vielen alltäglichen Erfahrungen. Die Erklärungen auf dem Busfahrplan zu den Bedeutungen der kleinen Zeichen. Die Schilder, die mich in riesigen Supermärkten darauf aufmerksam machen, wo die Kasse ist. Die Hausnummern neben den Eingängen. Es mag alles banal sein, ist jedoch zu einem bestimmten, nicht zu vereitelnden Zweck von Menschen entschieden und geschaffen worden. Was tagein, tagaus in Anspruch genommen wird, fällt erst nachts durch Abwesenheit auf. Und macht mich, wenn es doch da ist, dankbar. Das jetzt auch wieder tagsüber.

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