Wir haben ein großes Problem in Deutschland.
Ehrlich gesagt haben wir momentan ganz schön viele, doch eines ist so präsent wie kein anderes und scheint sich durch so viele politische Debatten zu ziehen.
Es nennt sich Klassenunbewusstsein.
Es taucht auf bei Diskussionen über das Einführen einer Vermögenssteuer, wenn sich Bruttosozialverdiener:innen plötzlich anfangen, getreu dem Motto „du bist deines eigenes Glückes Schmied“, mit Millionär:innen (sogar Milliardär:innen) zu sympathisieren, denn auch sie könnten ja irgendwann mal durch diese soziale Marktwirtschaft einen Batzen Moneten auf dem Konto liegen haben. Schließlich haben wir doch alle die Chance auf ein schönes Leben. Und es taucht auf in Debatten über das Bürgergeld, da hier Leute einfach fürs „Nichtstun“ bezahlt werden (hust hust, wie die meisten Millionäre auch, hust hust). Und so läuft es nunmal im Spätkapitalismus: Wer kein Geld hat, kann nur seine eigene Arbeit verkaufen, ergo wer nichts leistet, ist nichts wert.
Wir sitzen im selben Boot, doch entscheiden wir uns dazu, für uns allein zu paddeln, denn wenn jeder an sich selbst denkt, ist doch an alle gedacht, oder nicht?
Klassen(un)bewusstsein findet sich in vielerlei Lebensbereichen wieder, ohne dass wir es überhaupt bemerken: wir daten in Klassen, wir leben in Wohnblöcken, die eine Klasse repräsentieren und wir sind sozialisiert nach unseren Klassen.
Doch es passiert kein richtiger Austausch darüber. Wenn jede:r selbst darauf achtet, wie man in diese Misere hereingerutscht ist, bleibt keine Zeit, um nach oben zu gucken. Und das lösen wir, indem wir am Glück des Einzelnen ansetzen: Heilt das nächste Spaßgetränk meine Depressionen? Kann man beim Yoga seinen Burnout wegatmen? Hilft mir morgens zu Meditieren dabei, auf der Arbeit nicht mehr überfordert zu sein? (vgl. Jean-Phillip Kindler). Da wo jede:r für sich selbst verantwortlich ist, wo beim Individuum angesetzt wird, geht das Gemeinschaftsgefühl flöten und verantwortliche Strukturen werden übersehen. Auch Linke scheinen das Bedürfnis nach einem kollektiven solidarischen „Wir“ verloren zu haben. Da wird eher drüber diskutiert, wer links sein darf und wer nicht, um sich dann beweihräuchernd auf die Schulter zu klopfen und sich zu versichern, wie geil man doch eigentlich ist.
Seine eigenen Klassenpriviliegien zu hinterfragen, rüttelt ordentlich an der eigenen Selbstwahrnehmung. Doch es ist wichtig, um Klassendynamiken überhaupt greifen zu können. Denn „eher links“ in deinem Bumble Profil anzugeben, politische Theorie zu lesen und in einer Studenten-WG zu wohnen, macht dich nicht automatisch auch aufgeklärt. Genauso wenig wie du kein Feminist bist, nur weil du lackierte Fingernägel hast.
Hier geht es nicht darum, Leuten ein schlechtes Gewissen zu machen, weil es ihnen finanziell besser geht als anderen. Es geht darum, dass man begreift, welche Privilegien damit einhergehen. Klasse ist nicht nur Geld. Klasse ist, seit Kleinauf die Hausaufgaben allein machen zu müssen, weil niemand da ist, der dir dabei helfen kann. Klasse ist, unbezahlte Praktika für „die Erfahrung“ machen zu können. Klasse ist, Zugang zu Informationen zu haben, Wissen und schicke Klamotten, um das Stipendium an einem angesehenen Institut zu bekommen.
Vor allem bestimmt deine Klasse den Grad deiner auszulebenden Freiheit. Denn es lässt sich nun mal leichter und risikohafter leben, wenn man weiß, dass man jederzeit von einem weichen familiären Netz aus Kontakten, zeitlichen Ressourcen und Beistand aufgefangen werden kann. Und natürlich auch vom Geld, wenn es am Monatsende mal wieder knapp wird. Und das ist das Problem: „Systematisch bevorzugt zu werden, fühlt sich nicht an, wie ein Vorteil, sondern als hätte man es sich selbst erarbeitet,“ wie Ciani-Sophie Hoeder treffend in ihrem Buch „Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher – die Lüge von der Chancengleichheit“ beschreibt.
Eigene Erfahrungen anzusprechen ist wichtig, aber auch andere zu Wort kommen zu lassen. Vor allem meine ich damit, Menschen Fehltritte zu erlauben und sie trotzdem in einem kollektiven „Wir“- Gefühl mit einzuschließen, da so erst extreme Positionen und Antihaltungen entstehen: Durch systematischen Ausschluss von Menschen, die sich nicht „links genug“ äußern, nicht woke genug aussehen oder es schlichtweg nicht besser wissen (können). Da sollten sich Linke an die eigene Nase fassen und überlegen, ob sie für Aufklärung und Offenheit stehen wollen oder die Verfestigung der eigenen Bubble, wo einem die eigene Meinung wie ein Echo zurückgeworfen wird.
Für eine solidarische, antiklassistische Gemeinschaft müssen wir mehr Austausch über den eigenen Tellerrand hinaus wagen!