Im Rahmen der Projektwoche der Fachhochschule Erfurt im Oktober 2023, zu der die Studierenden die Möglichkeit hatten, in fachfremde Disziplinen zu schnuppern, war eine Gruppe von 14 Menschen, darunter StudentInnen unterschiedlichster Fachbereiche, im Schloss Tonndorf zu Besuch. Sie besichtigten und unterstützten die Freie Talschule, den Waldkindergarten, ein Wohnprojekt im Dorf und die im Schloss ansässige Wohngemeinschaft.
Tag 1
[9:26] Aus Angst, den Bus zu verpassen, bin ich (notorische Zuspätkommerin) ein paar Minuten zu früh am Erfurter Busbahnhof. Noch ist niemand da, der oder dem ich ansehen würde, dass wir die nächsten Tage gemeinsam verbringen werden. Aber: in der Ferne sehe ich über den Willy-Brandt-Platz zwei Menschen mit Reiserucksack auf den Schultern und Wanderschuhen an den Füßen – das sieht mir verdächtig nach vier Tage Abenteuer aus.
[9:33] Drei Namensrunden später (und dies wird nicht die Letzte gewesen sein),steigen wir gemeinsam in den Bus, der uns mit einem Umstieg zum Ziel unserer Reise bringen wird: Tonndorf.
[10:47] Tonn-was? Wir stehen an einer Durchfahrtsstraße eines bescheidenen Dorfes, das Wetter ist dem ersten Eindruck nicht unbedingt zuträglich. Die Hügelkuppen verschwinden in den tiefhängenden, grauen Wolken, aus denen feiner Nieselregen fällt. Google Maps zeigt uns den Weg den Berg hinauf zum Schloss, das wir mit aufmerksameren Augen auch ohne die Hilfe unserer Smartphones hätten finden können.
[10:51] Auf dem matschigen Trampelpfad bergauf beginnen wir, mehr oder weniger bepackt, zu schwitzen. Im Schloss angekommen empfängt uns ein verschmitzt lächelnder Mensch mit offenen Armen und heißt uns Willkommen im Schloss Tonndorf – unserem Wahlort für die nächsten drei Nächte.
[11:49] Vom Turm des Schlosses über die weitläufige Landschaft blickend, erfahren wir von einem Schlossbewohner ein wenig über die langjährige Geschichte der historischen Gemäuer, auf denen wir uns befinden. Die Ritzen in den Zinnen zeugen von der Langeweile der WächterInnen: Während sie auf die FeindInnen warteten, schärften sie ihre Messer an den rauen Steinen. Man kann die Rillen bis heute noch erkennen.
[12:17] Ersts erschütterndes Urteil: an meinem Appetit merke ich, dass ich mich schon jetzt mutmaßlich mehr (an der frischen Luft) bewegt habe, als ich es an jedem anderen durchschnittlichen Tag getan hätte. Und das, obwohl der aktive Teil des Aufenthalts hier noch gar nicht richtig begonnen hat. Das Essen, vom im Schloss ansässigen Biocatering, ist frisch gekocht und sehr lecker. Die Mitarbeitenden bereiten täglich über 50 Mahlzeiten für die Freie Talschule im Dorf, den Waldkindergarten und diese Woche auch für uns zu.
[15:23] Wir laufen eine der kleinen Straßen entlang und sehen viele verschiedene Fassaden, hinter denen gelegentlich warmes Licht schimmert, während ich über Atomenergie und das Kinderkriegen diskutiere. Menschen, die sich alternative Wohnformen ansehen und miterleben möchten, scheinen ein großes Interesse für Zukunftsthemen mitzubringen. Bei einer großen, grünen Gartenanlage am Rande des Dorfes halten wir an. Hier produziert die Solidarische Landwirtschaft (SoLaWi) ihr Gemüse, das zwischen den knapp 60 Mitgliedern aus dem Dorf und dem Schloss gegen einen monatlichen Betrag aufgeteilt wird. Die Gemüsemengen ergeben sich aus der Größe der Ernte je nach Witterung und Jahreszeit, was den GärtnerInnen eine ein Jahr lang andauernde Finanzierungsgarantie einräumt. Das, bedeutet sie sind nicht den Produktionszwängen des freien Marktes ausgesetzt und können ökologisch nachhaltig anbauen. Ein Mensch mit wetterfester Kleidung und erdigen Händen beantwortet unsere Fragen, während wir uns zusammen mit den Kartoffeln und Karotten vom Nieselregen bewässern lassen.
[18:34] Während die 14 Köpfe vor Fragen und Antworten dampfen und die Bäuche knurren, schnibbeln 28 Hände gemeinschaftlich Gemüse für das Abendessen. Die Zutaten kommen direkt vom Feld der Solawi: heute wird eine Suppe gezaubert. Die Menschen, für die keine Messer und Schneidebretter mehr übrig waren, lösen Kreuzworträtsel. Einen leicht ironischen Tischspruch später wird synchron gelöffelt. In den historischen Gemäuern spendet der Ofen wohlige Wärme, während in unseren Schlafzimmern im Obergeschoss vielleicht angenehme 13°C herrschen. Kühle Temperaturen sollen ja gut sein zum Schlafen, richtig?
[21:45] Wie es auf jeder mehr oder weniger richtigen „Klassenfahrt“ sein muss, finden wir uns abends in einem Spektakel wieder: Schloss Tonndorf wurde von Werwölfen heimgesucht und wir müssen herausfinden, wer die Bösen waren! Gelungen ist es uns zwar nicht, überlebt haben glücklicherweise trotzdem alle. Eine weitere Erkenntnis: so viel Sauerstoff in Kombination mit Kälte und Bewegung, macht sehr müde, und das, obwohl es noch gar nicht so spät ist. Ich scheine nicht die einzige zu sein, der es so geht, denn nach und nach verkriechen sich alle ins Bett.
[23:57] Mit 5 mich umhüllenden Kleidungsschichten und letzten Gedanken aus dem Gespräch mit meinen Roommates kehrt eine angenehme Zufriedenheit über die waagrechte, erstaunlich kuschelige Position ein und lässt mich neben drei schlummernden Menschen ebenso schlummernd zurück.
Tag 2
[08:22] Erstaunlich, wie selbstorganisiert und problemlos sich ein Frühstück für 14 Menschen zubereiten lässt. Porridge mit Haferflocken vom eigenen Feld, Milch und Joghurt von den Kühen des Schlosses und selbstgebackenes Brot stehen auf den zu einer Tafel zusammengeschobenen Tischen. Ich genieße die gegenwärtige, morgendliche Trägheit mit dem dekadent anmutenden Blick aus dem erhobenen Schlossfenster über das Thüringer Land mit der spät aufgehenden Wintersonne.
[9:16] Im Kreis stehen wir um den sympathischen, erdhändigen Mensch von gestern, der uns erklärt, wie wir heute vormittag die SoLaWi unterstützen können: Knollensellerie ernten, Laub harken, Karotten ziehen.
[10:49] Der Regen hat Erbarmen mit uns, nur der Wind zieht kräftig um die Ohren, während die anderen ihre Hände in der kalten Erde vergraben. Der orangene Haufen Karotten auf dem braunen Sandbett wächst und wächst, bis er ein erstaunliches Ausmaß umfasst. Das alles war in so einem kleinen Stück Land? Meine Daumen weisen nach dreistündigem Rechen erhebliche Blasen auf und mein Rücken mault von der schiefen Belastung. Immerhin ist der Boden jetzt etwas laubärmer.
[13:01] Bohnen, Mais, Karotten und Sojahack lachen mich von meinem Teller aus an. Auf niedrigen Bänken und kleinen Tischen gekauert, löffeln wir salzarmes (meine Gesundheit wird’s mir danken…) Chili sin Carne und wärmen uns auf. Durch das Fenster fallen immer mal wieder neugierige Kinderaugen der SchülerInnen der freien Talschule, in der wir Pause machen.
[14:27] Ich frage mich, ob die Kinder, die hier unterrichtet werden, auf ihre gesellschaftliche und private Zukunft vorbereitet werden – es bleibt bis zum Ende offen. Im Gespräch mit einer Lehrperson versuchen wir herauszufinden, wie die Freie Schule funktioniert und welche Ziele sie verfolgt. Verständlicherweise hat unsere Gesprächspartnerin nur wenig Zeit, bevor sie sich wieder um die Linolschnitte der Kreativgruppe kümmern muss. Wir helfen ihr beim Aufräumen und ich bin froh, das als Ausrede zu haben, nicht mit den Kindern interagieren zu müssen. Gewiss, es sind kleine Menschen und sie können weit mehr, als ich ihnen zutrauen würde. Gleichzeitig bemerke ich, dass mein Alltag mich an keiner Stelle mit Menschen, die derart jünger sind als ich, konfrontiert und mir die Übung fehlt, mit ausreichend Energie und Gelassenheit auf sie zuzugehen. Wäre mehr Kontakt zu Kindern im Alltag erstrebenswert?
[16:46] Ich habe von vielen Menschen, die in Dörfer zugezogen sind, gehört, dass die Integration in bestehende dörfliche Strukturen und Gemeinschaften sich oft schwierig gestalten kann. Wie die Menschen hier im Dorf wohl Initiativen, wie das Wohnprojekt im Schloss, die SoLaWi und die Freie Talschule auffassen? Sind es Projektideen der „Stadtmenschen“, von denen sie sich bewusst abgrenzen oder integriert das Engagement der „Stadtmenschen“ sie vielleicht sogar schneller und leichter in die Dorfgemeinschaft? Mit dampfenden Tassen sitzen wir im Gemeinschaftsraum im Kreis, mampfen Honigbrote von der schlosseigenen Imkerei und spielen Karten.
[21:12] Eine Doku nimmt uns aus dem ofenwarmen Raum mit durch Deutschland auf “Wandelreise”: eine Tour zu 40 verschiedenen Orten alternativer Lebens- und Wirtschaftsformen.
Tag 3
[8:22] Ohne etwas kleines Süßes zwischendurch (bis auf ein paar Äpfel von der schlosseigenen Streuobstwiese) haben wir alle ein unverhältnismäßig starkes Bedürfnis nach Schokolade und andere zuckerhaltigen Lebensmittel. Wir sind zu alt, um Süßigkeiten im Gepäck wie selbstverständlich mit zu berücksichtigen, somit erfreut sich unser Körper einer Zuckerpause. Auf Nachfrage erhalten wir Kakaopulver, der mich in mein jüngeres 3.Klasse-Schullandheim-Ich zurückversetzt. Ich weiß nicht, wann ich davor das letzte Mal Kakao getrunken hatte.
[9:35] Draußensein gehört nicht selbstverständlicherweise zu meinem Alltag. Ich gehe immer irgendwo hin gehören Wege an der frischen Luft gehören dazu, aber sie haben immer ein Ziel und dadurch auch ein Ende. Die Kinder des Waldkindergartens, vor dem wir heute morgen stehen, sind jeden Tag draußen. Der dazugehörige Bauwagen hat nicht genug Platz für sie alle zusammen, aber das Wetter spielt eine untergeordnete Rolle für die Wahl des Aufenthaltsortes. Wenn es regnet, heißt es eben Regenkleidung anziehen. Ich bewundere die Energie der Kinder beim Rumtoben und ihre Bereitschaft, dreckig zu werden, wo doch an uns mittlerweile alles immer sauber ist.
[10:14] Beim Zusehen, wie die Kinder aus Holunderästen Holzperlen gestalten, bekomme ich Lust, selbst wieder kreativer zu werden. Außerdem ist es schön, zu beobachten, wie gut es manchen aus meiner Gruppe gelingt, mit den Kindern umzugehen, mit ihnen zu lachen und rumzutoben.
[15:36] Ich habe noch nie einen Bauwagen kaputt gemacht. Umso mehr Spaß macht es, mit einem schweren Hammer auf aufgequollene Holzplatten eines solchen einzuschlagen und das noch tüchtige Metallgerüst von den vermoderten Wänden zu befreien. Wir stehen in der Scheune eines 3-Seiten-Hofes, der sich in Renovierung befindet: ein neues Wohnprojekt in Tonndorf, das bereits acht BewohnerInnen beherbergt, und der hier stehende marode Bauwagen soll entkernt werden und dann zu einem Gewächshaus umfunktioniert werden.
[19:59] Ich staune immer noch über meinen bewegungs- und frischluftbedingt großen Appetit und fühle mich angenehm erschöpft. Banale Stadtkinderkenntnis: es ist faszinierend, seinen Körper einzusetzen und ihn tatsächlich zu brauchen. Bei dem, was ich jeden Tag tue, erscheint er mir – bis aufs Fahrradfahren – eher optional. Selbst das Fitnessstudio ist selbstgewähltes Leid. Wirklich Brauchen tun wir es nicht.
[21:41] Meine Jacke ist dank Lagerfeuer durchgeräuchert und diesmal haben die DorfbewohnerInnen es geschafft, die Werwölfe zu finden und zu töten. Welch ein glückliches Ende. Die Gespräche verlieren sich in ausschweifenden Halbwissen über leuchtende Planeten am Himmel,die Augen suchen nach Sternschnuppen.
Tag 4
[11:23] Ich sitze auf einem Netz, um mich ein Holzrahmen, alles zusammen ein Schiffbug auf einem Spielplatz. Wir haben Zeit, die letzten drei Tage zu reflektieren: Welchen Wert hat es, mit Herzensmenschen zusammenzuleben und wie soll dieses Zusammenleben aussehen? Ist die Norm der bürgerlichen Kernfamilie eine uns künstlich gesetzte Grenze, die uns einschränkt, weil so viel mehr Menschen Teil eines Miteinander-Wohnens sein könnten?
[12:48] Unsere bis dato unbekannte Zuckersucht zeigt sich, als wir auf dem Rückweg in der Umsteigezeit den Rewe stürmen und mit Schokolade und Gummibärchen bewaffnet wieder herauskommen. Es muss ein seltsames Bild sein, wie ein Haufen Mitte 20-Jähriger Süßigkeiten im Kreis herum gibt und genüsslich über den Süßkram herfällt.
[14:07] Wir finden uns in einem Erfurter Café wieder. Seit Tag 3 hatten wir uns auf den nun vor uns stehenden Kuchen gefreut – nun ist er da… Hmmm!