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Erfurter Kuppeln

Schon komisch der Gedanke. Unter einer Kuppel leben. Aber nur mit Menschen, die genauso viel Geld haben wie man selbst. Die anderen haben ihre eigene Kuppel, leben aber in der gleichen Stadt. Die Wissenschaft sagt: Soziale Segregation. Räumliche Trennung der Wohngebiete von sozialen (Teil-)Gruppen. Ungleichheit also, in negativ und kompliziert. „Die Armen“ und „die Reichen“ wohnen nicht mehr Tür an Tür, teilen sich nicht mehr Häuser, Gärten, Supermärkte, Lebensraum. Und das vor allem in ostdeutschen Städten und besonders in: Erfurt.

Wir haben eine rasante Entwicklung hin zu sozialer Segregation in ostdeutschen Städten erlebt.

© Bernhard Ludewig

In einer großflächigen 2018 erschienen Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) untersuchten Wissenschaftler*innen die Entwicklungen sozialer Segregation in 74 deutschen Städten, über den Zeitraum von 2005 bis 2014. Einer von ihnen ist Marcel Helbig, Professor für Bildung und soziale Ungleichheit an der Uni Erfurt.

„Wir haben eine rasante Entwicklung hin zu sozialer Segregation in ostdeutschen Städten erlebt. 1995 waren die meisten Städte noch sozial homogen, bereits zehn Jahre später war die Segregation im ‚Osten‘ auf einem höheren Niveau als in anderen Teilen Deutschlands“, erklärt Helbig, der selbst aus Erfurt kommt und den Wandel des Stadtbildes in den letzten Jahren mitbekommen hat. Wie in vielen Städten, zeigt sich auch in Erfurt die soziale Trennung von Bevölkerungsgruppen zusätzlich auf andere Weise: Auch alte und junge Menschen teilen sich immer seltener das gleiche Wohngebiet. Man spricht von demographischer Segregation.

Um soziale Segregation auch in Zahlen ausdrücken zu können, haben die Wissenschaftler*innen einen Segregationsindex gebildet. Dieser basiert auf den Daten zu SGB II- Beziehenden in einer Stadt. Der Wert schwankt in den meisten untersuchten Städten irgendwo zwischen 20 und 30. Erfurt rangiert mit einem Wert von 38,9 ganz weit oben.

Auch wenn die Lage im Osten des Landes besonders prekär ist, gibt es auch Gegenbeispiele:

In Städten wie Dresden und Magdeburg gibt es eher wenig sozialräumliche Spaltung. Helbig begründet dies mit der massiven Zerstörung dieser Städte im Zweiten Weltkrieg.

Während Dresden und Magdeburg komplett wiederaufgebaut wurden, Plattenbauten also auch im direkten Zentrum errichtet wurden, gestaltet sich die Situation in Erfurt anders: Plattenbauten am Rande der Stadt, die beschauliche  Altstadt im Zentrum – klare Trennlinien in der Stadt, in der Lebenswelt der Menschen, zwischen ‚Arm und Reich‘ schwindender direkter Kontakt.

Digitale und nicht-digitale Kuppeln – Filterblasen, in denen wir uns im behüteten, gleichgesinnten, homogenen Raum einigeln. Das sind mitnichten nur Probleme der Sozialwissenschaft. Es geht um gesellschaftliches Leben und Zusammenhalt und darum, mit unseren Nachbarn zu reden, auch wenn er sich kein Quinoa-Frühstück macht und intellektuelle Podcasts scheiße findet.

Helbig denkt da an einen Studenten, der am Moskauer Platz (ja, günstig und ja, Uninähe) wohnt und nicht in der Krämpfer- oder Andreasvorstadt. „Man bekommt so die Realität anderer, ärmerer Menschen mit“. Und dann? „Hat man einen offeneren Blick für die Probleme und zumindest mal einen möglicherweise ersten Berührungspunkt mit Armut und anderen Lebensperspektiven“ Hm. Wie weit uns das bringt, ist da eine andere Frage – und offenbar schwer zu beantworten.

Immerhin beim Thema Kultur werden wir kurz das bedrückende Wir können nichts ändern- Gefühl los. Helbig sieht Ilversgehofen als ein Viertel „auf dem Weg der Besserung“, zieht vorsichtige Vergleiche zu Berlin Kreuzberg und anderen viel zu großen, viel zu lauten Städten. Der Stadtteil sei auch für Studierende interessant geworden, kulturell habe sich einiges getan, da ist Potential. Na also, das Kultur-Vehikel gegen die Spaltung der Stadt. Die Ungleich Redaktion hebt beide Daumen und ihre Hipster-Brausen zum Prost.

Zurück zur Studie. Es geht um bezahlbares Wohnen, um die Platte, um die Politik. Marcel Helbig sieht nur wenig Anreize für „Mittelschicht“-Familien in Plattenbauten zu ziehen, „dann doch lieber Umland, Sömmerda zum Beispiel“. Die Plattenbauten stünden in den Augen Vieler nicht mehr für zeitgemäßes Wohnen, diese Art der Sozialwohnungen fördere in Erfurt nur die Segregation. Am Ende würden sich da Hartz IV Beziehende, Geflüchtete, ärmere Leute ballen. Die, die es sich leisten können, ziehen dann lieber woanders hin.

Und die Politik? „Ist faktisch handlungsunfähig“. Sozialräumliche Vermischung politisch zu induzieren erscheint bei jetziger, vor allem finanzieller, Ressourcenlage Thüringens und Erfurts völlig unrealistisch. Die Wissenschaft stellt die Probleme also heraus, die Politik erkennt sie – Änderungen sind aber erstmal nicht in Sicht. Die Kuppeln bleiben erhalten. Vielleicht werden sie größer und kleiner, verändern ein wenig ihre Form. Eine sozial gemischte Nachbarschaft mit jungen und alten, armen und reichen Menschen, die eine gemeinsame Gesellschaft bilden, soll jedoch wohl erstmal Wunschdenken bleiben.

Weitere Infos zu der Studie

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