Sie war politische Aktivistin in den Siebzigern, musste ein Jahr lang in Haft verbringen und widmete sich danach der Kunst im Untergrund der DDR, in Erfurt. Heute stellt sie international aus, erzählt aus ihrer Vergangenheit und war ebenfalls zur Berlinale dieses Jahres nominiert. Sie hat mit ihrer besonderen Art ein besonderes Projektseminar gestaltet. Performance Art – Eigene Grenzen erweitern durch Performance. Eine Woche lang machte ich das StuFu mit Gabriele Stötzer (ein Projektseminar an der Universität Erfurt im Rahmen des Studium Fundamentale). Ihre Erzählungen, Geschichten, Herangehensweisen waren Teil der Woche und der Entwicklung unserer Gruppe und unserer Performance. Neben der eigenen Performance, die wir im Laufe der Woche entwickelt haben, lernten wir aber auch sehr viel von ihrer Person und Geschichte, über die es so einiges zu erzählen gibt.
Unwissend und ohne Erwartungen meldete ich mich für das StuFu an, es waren noch Restplätze übrig. Ich wusste nicht wirklich, was ich mir unter Performance Art vorstellen sollte. Im Laufe der Woche begriff ich, dass es sich bei der Perfomance um eine Kunstform handelt, die sich davon abgrenzt, Kunst in exklusiven und konstanten Objekten in Galerien und Ausstellungen zu sehen. Performance Kunst ist fluide, endlich, prozessorientiert, entwickelt sich und orientiert sich an unserem alltäglichen Leben.
Zur Vorbereitung sollten wir uns eine alltägliche Bewegung ausdenken. Aufstehen, radeln, kassieren, kochen,… Diese Bewegungen stellten wir uns in einem imaginären geschlossenen Raum vor. Wir haben über die Woche unsere Bewegung erweitert, geübt, und versucht, diese immer mehr zu verkörpern und auswendig zu können. Stötzer ging es darum, dass wir die Kunst jeder alltäglichen Bewegung sehen, jede Bewegung gleichwertig betrachten und die Schönheit in allen alltäglichen Dingen erkennen… Wir haben im Verlauf der Woche die Einfachheit jeder Bewegung des Alltags dargestellt. Es ging darum, dass banale Aufgaben des Alltags plötzlich einen Wert bekommen. Dabei war nicht so wichtig, was wir darstellten. Wir sollten das, was wir ausübten, selbst bestimmen, mit Vertrauen und Glaube an sich selbst und das eigene Können ausführen.
Lesbisch – Den Ausdruck gab’s noch nicht in der DDR.
In den ersten Tagen erzählte Gabriele Stötzer uns, dass sie einst auch Studentin an dieser Uni war. Sie studierte Kunsterziehung und Germanistik und war eine gute und fleißige Studentin. Jedoch wurde sie 1976 der Universität verwiesen. Ein Freund schrieb einen Text der den marxistisch-leninistischen Unterricht kritisierte. Dieser wurde kurz darauf verboten. Mit KommilitonInnen trug sie den Text in verschiedenen Seminargruppen vor. Nach der Exmatrikulation des Kommilitonen sammelte Gabriele Stötzer 83 Unterschriften gegen dieses Verfahren und schickte sie an Margot Honecker, der einzigen Frau im Politbüro. Innerhalb kürzester Zeit wurde auch sie exmatrikuliert. Dies stoppte Stötzers Aktivismus jedoch nicht, ganz im Gegenteil. Noch im gleichen Jahr sammelte Gabriele Stötzer Unterschriften gegen die Ausbürgerung des Sängers Wolf Biermann. Dieser war ein Liedermacher und starker Kritiker der SED und der DDR. Den Text der Unterschriftenliste tippte sie auf ihrer Schreibmaschine ab und unterschrieb als Erste von 20 Leuten. Kurz danach wurde sie festgenommen und kam nach fünfmonatiger U-Haft mit der Verurteilung „Verleumdung“ in den Knast, in das Frauengefängnis in Hoheneck, die „Mörderburg“. „Mörder waren immer Männer“, sagt sie, „doch in diesem Knast waren auch Frauen Mörderinnen. Da waren alle, Frauen, die von oben bis unten tätowiert waren, Mörderinnen, Mütter, lesbische Frauen. Lesbisch – den Ausdruck gab’s noch nicht in der DDR“.
Während ihrer Zeit im Gefängnis wollte sie nicht mehr essen und trinken. Ihre Periode blieb aus. In einem ihrer Bücher mit Gedichten und Prosa schreibt sie: „meine nie hinterfragte fraulichkeit, mein naives ich-bewusstsein, es schwand innerhalb eines tages und einer nacht. (…) ich begegnete einer solchen un-natur, dass sich jedes natürliche reagieren verschob, davonschlich.“ Von Zelle zu Zelle wurde mithilfe Klopfzeichen kommuniziert. Sie ignorierte dies größtenteils und verlor somit den Anschluss, verfiel in Einsamkeit, Verlassenheit, Ohnmacht. Sie erzählt uns, wie sie einmal schrie vor Schmerz und die anderen Frauen im Gefängnis daraufhin durch die Wände hindurch mitschrien und ihre Hocker gegen die Wände schmissen. Sie erzählt uns, dass sie da die Frauen das erste Mal gespürt hatte, das die Schreie für sie bestimmt waren. Dass dies das erste Gefühl von Solidarität war.
Kurz darauf wurde sie ins Krankenhaus gesteckt. Diagnose – Nierencholiken und Nierensand. „Die Stasi hatte Angst vor hysterischen Frauen“, sagt sie. Also wurde sie aufgrund einer vermeintlichen Bauchhöhlenschwangerschaft operiert, da sie ihre Periode nicht hatte. Eine Operation mit Fehldiagnose… Da habe sie gemerkt, dass sie im Knast nicht „irgendwas machen konnte, dass dort nicht zu spaßen sei“ – „Im Knast ist alles möglich.“ Eine wichtige Erfahrung aus dem Knast war die neu entdeckte Kraft, Leidenschaft und Energie von Frauen. Das Zusammenleben in der „Mörderburg“ mit anderen Frauen und die puren Erfahrungen mit grenzüberschreitenden Emotionen und Weiblichkeit. Später flossen diese Erfahrungen auch in ihre Kunst ein.
Nach der Entlassung wollte sie nicht in den Westen. Sie sagte immer, „warum soll ich gehen – sollen die doch gehen“. Also ging sie zurück nach Erfurt, politischer Aktivismus war zu gefährlich, also entschloss sie sich, künstlerischen Tätigkeiten im Untergrund der DDR nachzugehen. Stötzer leitete die private Kunstgalerie „Galerie im Flur“, die unter strenger Überwachung der Stasi stand. Sie meint im Untergrund, „da kamen auf 50 Männer 3 Frauen“. Die Galerie wurde liquidiert und somit wurden ihr einige künstlerische Entfaltungsmöglichkeiten genommen. Sie fing an, sich viel mehr mit Frauen und Performance zu beschäftigen. Deswegen gründete sie in den Achtzigern kurzerhand die Künstlerinnengruppe „Frauen für Veränderung“. Sie machten als Gruppe von jungen Frauen vor allem Performance, fotografierten, machten Modeobjektshows und Musik, webten und drehten Kurzfilme. Durch ihre selbst initiierten künstlerischen Aktionen – Untergrundzeitschriften, Ausstellungen, Festivals, Lesungen – provozierten sie das Leben selbst und erweiterten dadurch ihre Freiheit innerhalb des festen Systems der DDR. Im StuFu ermutigt sie uns immer wieder dies auch zu tun. Durch selbstbestimmte Räume und Selbstvertrauen die eigenen Grenzen und Freiheit erweitern und sich selbst und anderen Menschen offen gegenüber sein.
Kunst macht Dinge erträglich. – Kunst macht alles erträglich.
Einmal zeigt sie uns einmal einen selbst-gedrehten Film, „komik-komischen“. (1988) Es geht um abstruse (Um-) Wege und Bewegungen des Lebens. Luftballons, schräge Kostüme, scheppernde Musik, Latexkleidung, Wind, Dreck, nackte Frauen. Alles ein bisschen kantig, schräg, rar und ein bisschen nervig – das wollten die jungen Frauen in der DDR – sie wollten nerven, meint Stötzer. In dem Film verarbeiteten junge Frauen ihre Schicksale – Gefängnisaufenthalte aufgrund von Arbeitsverweigerung demnach „Asozialität“, Frauen die gezwungen waren ihre Kinder zur Adoption freizugeben oder Gewalt von Ehemännern. Sie erklärt uns, „Kunst macht Dinge erträglich“ – „Kunst macht alles erträglich.“ Somit wurde der Alltag in der DDR erträglicher, da sie sich ihre eigenen Grenzen immer erweiterten, ihre Freiheit provozierten, sich selbst bestimmten bewusster wurden und Schicksale verarbeiteten. Stötzer war beim Film verantwortlich für Regie und Schnitt. Sie versuchte, die einzelnen Geschichten und Persönlichkeiten als ein Ganzes darzustellen und Ähnlichkeiten herauszustellen. Die Kunst Stötzers war eine Ausdrucksweise und Sprachrohr für die Geschichten und Schicksale der jungen Frauen. Selbst die nervige, scheppernde Musik ist eigens komponiert. Von ihrer selbst gegründeten Musikgruppe EOG – erweiterte Orgasmus. Sie lacht, als sie uns davon erzählt. „Manche hatten noch nie einen gehabt, aber wir haben darüber geredet, über Orgasmen von Frauen.“ Zum „Tönen“ in Dachkammern traf sich der erweiterte Orgasmus. Sie sangen, lasen vor – Texte oder manchmal nur Wörterbücher. Sich als Frauengruppe selbst zum Ausdruck gebracht, „nach der weiblichen Sprache gesucht“ und dabei immer Performance gemacht. Durch ihre Kunst haben sie ihre Sprache als Frau gesucht, emotionale Grenzen erweitert und sind über die Grenzen des Sprechbaren in der DDR hinausgegangen. Dadurch sind sie sich ihrer Selbst bewusster geworden, haben ihr (Selbst-) Bewusstsein erweitert.
Gabriele Stötzer war auch am 4. Dezember 1989 für die Besetzung der Stasi-Zentrale in der Andreasstraße mitverantwortlich. Sie zeigte uns noch den Film – „Zelle 5“ vom Januar 1990, einer Performance, die sie gemacht hatte, in ihrer U-Haft-Zelle, nachdem sie die Stasi-Zentrale in der Andreasstraße besetzt hatten, da dort die Akten verbrannt wurden. Sie erklärt uns, „es gab immer Marmelade mit Brot. Die Frauen legten das Brot auf die Heizung zum Toasten.“ Die Performance sei aus dem Moment heraus entstanden, sie sagte, sie wusste nicht was passiert, sie hatte nichts geplant. Die Marmelade, mit der sie sich in dem Film einschmiert, steht für das Blut der Frau, das Blut, das ausblieb, da bei vielen Frauen im Knast die Periode ausblieb. In diesen Zellen sammelten sie die Akten und bewachten sie während der Besetzung.
Obwohl es in der Woche weniger um sie, als um uns und unsere Performance ging, prägten Stötzers Erzählungen meinen Eindruck sehr. Sie inspirierte mich mit ihrer selbstbestimmten und klaren, aber doch bescheidenen Art. Durch die verschiedenen Übungen in der Woche lockerte sich die Gruppe und es reagieren alle erstaunlich offen auf die verschiedenen Übungen. An einem Vormittag brachten alle ihr Lieblingslied mit. Wir tanzen den ganzen Vormittag. Zu Frank Sinatra, Supertramp und zu Rihanna. Sie erzählt uns von ihrem 5-Rhythmen-Tanz und ermutigt uns, in egal welcher Situation, tanzen zu können. Im Seminar verarbeiteten wir ihre Erfahrungen, machten verschiedene Übungen und Performance Arten, so auch das gemeinsame „Tönen“ – „die einfachste Symphonie die es gibt“. Wir stellen uns kreuz und quer im Raum auf und summen, schnattern, zischen, pfeifen, harmonieren, schreien. Einfach Tönen, 15 Minuten lang und noch laut schreien. Ganz laut, jede/r so laut wie er/sie kann. Ziemlich aufregend. Ich frage mich zwischendurch, ob da überhaupt was rauskommt, wenn ich meinen Mund aufmache. Das geht den anderen vielleicht auch so, denke ich. Wenn sie uns aufruft, ob jemand anfängt, meldet sich niemand. „Das sind die 10 Sekunden bevor wir fremd bestimmt werden“, erklärt Stötzer uns herausfordernd. Davor habe noch jede/r die Chance aufzustehen, in den Raum zu treten und zu bestimmen, dass das, was die Person macht, gut ist. Immer wieder betont sie „Ihr müsst eure Bewegungen auswendig können.“ Einfach das machen, was wir machen, in unserem geschlossenen Raum. Alles geschieht gleichzeitig und dennoch ist jede/r für sich und macht ihr/sein Ding. „Es ist egal, was passiert. Die Welt geht unter, aber wir bleiben bei uns selbst.“ In einer Beiläufigkeit sagt sie, „Die Schönheit in sich entdecken und sich immer bewahren.“
Unser selbstbestimmter geschlossener Raum öffnet sich in der Endperformance am Freitag, dem letzten Tag, für Publikum. Dass sogar der mdr kommt, um das Ganze zu filmen, verkündet uns Stötzer einen Tag vorher. „Und ein sehr guter Trompeter, der euch begleiten wird“. Die Performance ist öffentlich. Sie ermutigt uns, Leute mitzubringen, uns zu präsentieren und unseren selbstbestimmten Raum einzunehmen. „Habt ihr Leute eingeladen für morgen? – es fehlt niemand, denn alle die da sind, sind da und das sind die richtigen.“ Die Endperformance am Freitag war der Abschluss und elementarer Teil der Woche. Im letzten Teil der Performance improvisieren wir. Es fließen alle Bewegungen ineinander über und die einst geschlossen Räume verschmelzen. Interaktion und Selbstbestimmung. Es herrscht Unwissen darüber, was entsteht, was geschieht, was wir machen und wie wir aufeinander reagieren. Wir lassen unseren Bewegungen freien Lauf. Wir wissen nicht genau, wann wir enden, wann es sich richtig anfühlt und wir unsere Bewegungen mit den Melodien des Trompeters abstimmen, der uns begleitet. Dieser hört einfach nicht auf zu spielen, wir liegen schon auf dem Boden, eigentlich schon bereit für den Abschluss, in einem kurzen Moment der Schwebe und dann fängt eine Person an zu klopfen. „Als ob die Person, die anfing zu klopfen, einen intuitiven Drang und Gefühl von allen getroffen hat“ sagt Ana, eine Teilnehmerin des StuFus. Einige klopfen im Rhythmus zu „we will rock you“, andere hämmern wie wild auf den Boden des Gymnastikraums. Es wird laut und immer stärker, bis es kracht und donnert. Die Performance ist zu Ende.
Das, was ich euch lehre, ist das, was mich am Leben erhalten hat.
Bei so vielen Geschichten und Erfahrungen aus der Vergangenheit habe ich mich gefragt, was Gabriele Stötzer heutzutage macht. Sie erklärt mit ihrer bestimmt-bescheidenen Art, „… und jetzt plötzlich bekomme ich innerhalb von einer Woche Anfragen aus Johannesburg, Mexiko Stadt und NYC – da muss ich erstmal drüber nachdenken“. Es entwickelt sich ein neues Interesse für sie und auch für eine neue Betrachtung der DDR. Sie war Ende Februar auf der Berlinale, mit ihrem Film „Veitstanz“ von 1988. Dieser zeigt, wie sich Menschen in die Ekstase tanzen, an einem Ort ihrer Wahl. Sonst macht sie jährlich dieses StuFu. Außerdem hat sie momentan eine Ausstellung in Leipzig „Bewusstes Unvermögen“. In Erfurt hat sie das Kunsthaus mitgegründet. Die ganze Woche war eine intensive und herausfordernde Erfahrung, bestärkend, den eigenen Raum selbst zu bestimmen, die eigenen Grenzen und Freiheiten selbst zu provozieren, aber auch das Gemeinsame sprießen lassen. „Das, was ich euch lehre, ist das, was mich am Leben erhalten hat.“ – Sie sagt, es sei wichtig, dies an uns weiterzugeben, ihre Erfahrungen, Erzählungen und selbstbestimmtes Selbstvertrauen zu kreieren.