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Von Arbeit, Struktur und der Rettung der Sonntage

Deutschland zelebriert wie kaum ein anderes Land den Sonntag. Der freie Tag mit all seinen Beschränkungen ist vor allem bei jungen Menschen verpönt. Warum er gerade jetzt wichtig ist.

Vor ein paar Wochen haben Fabi und ich einen Artikel geschrieben, darüber warum Erfurt immer noch Leipzig schlägt. Jetzt gerade, ist es für mich aber fast egal in welcher Stadt wir uns befinden. Das neue Zimmer, die Wohnung, könnte genauso gut überall anders in Deutschland stehen. Was mir fehlt ist nicht Erfurt, sondern die Regelmäßigkeit, schöne liebgewonnene Rituale und geordnete Zeit, in der man sich noch erinnern kann, ob heute Donnerstag, Montag oder noch 2019 ist. 

Dieses Jahr hat so viele Regelmäßigkeiten auf den Kopf gestellt. Als fehle seit März ein Teil der Gleichung, die sonst im alltäglichen Leben aufeinander folgt. Was macht der Kaffee vor dem Aufstehen mit mir, wenn ich danach nicht das Haus verlasse? Was bringt mir der Sport nach der Uni, wenn ich gar nicht mehr weiß, was dieses “nach der Uni” ist, da wir on Demand Vorlesungen streamen? Was ist der Reiz an einem Tinder-Date, wenn man sich am besten niemals trifft? Auf x folgt seit März irgendwie einfach nicht mehr y. 

Hände hoch, wer jetzt noch seine Wetter-App checkt! Ich bin sonst eine starke Verfechterin davon, sich auf die Begebenheiten des Tages einzustellen, aber wozu jetzt noch wissen, ob es regnet, wenn ich eh niemals gezwungen bin, raus zu gehen? Dadurch, dass ich zuhause bleiben kann, bin ich in einer extrem priviligierten Lage, soviel ist klar. Weniger Arbeit bringt das Home-Office nicht, wie viele vielleicht vermuten würden. Obwohl in der Pandemie so vieles planbarer geworden ist, ist es doch der Wegfall von Strukturen, der uns allen am meisten zu schaffen macht. Warum ist das so? Warum können wir es so schlecht aushalten, dass wir unseren Alltag selbst planen müssen? Die Antwort tut weh, denn es ist einfach so kapitalistisch. Wir schaffen es nicht, nur einen Tag nichts zu produzieren, nicht unseren Beitrag zum System zu erbringen. Ohne dieses feste Bollwerk an alltäglichen Abläufen sind wir aufgeschmissen.

Dabei gibt es doch so eine einfache Lösung für dieses große Problem und die lautet: Sonntage. Oder eher die Zurückeroberung von dem Tag, der schon von so vielen Gesellschaften für sich beansprucht wurde. Die katholische Kirche hat den freien Sonntag eingeführt und heute ist es immer noch der Sonntag, der den Deutschen heilig ist und nicht Freitag oder Samstag. Wenig erstaunlich, dass die Kirche immer noch Pro-Sonntag ist, sie betrachtet es als ihren Beitrag zum Kulturgut. Weniger verstaubt und jünger ist der Ausspruch für einen freien Sonntag von Arbeitergesellschaften wie verdi. Das Argument: Auch ohne Gott brauchen Menschen freie Tage. Der Sonntag ist der einzige Tag in der Woche, wo man nämlich seine Freizeitaktivitäten frei planen kann und eine Auszeit von der Arbeitswoche hat. Auch diese Vorstellung ist kapitalistisch und marktwirtschaftlich eine Win-Win-Situation. Arbeitende sind zufrieden, weil sie einen Tag frei haben und Arbeitgeber*innen freuen sich, weil alle Sonntags-Ausgeruhten an den restlichen Tagen mehr leisten können. An Sonntagen hält kaum ein anderes Land so sehr fest wie Deutschland. Selbst in Ländern mit einem deutlich höheren christlichen Anteil wie in Spanien und den USA werden großzügige Ausnahmen bei Ladenöffnungszeiten und Lärm gemacht.

Nein, hier ist der letzte Wochentag heilig (in unserem Nachbarbundesland Hessen sogar so sehr, dass jeder Sonntag ein eingetragener gesetzlicher Feiertag ist). Die traditionelle Vorstellung von Sonntagen mit Braten, Kirchengängen und gemütlichem Pfeiferauchen vor dem Kamin (ohne Musik, weil zu laut) spiegelt wohl kaum die Wirklichkeit von jungen Menschen wider. Vor allem das pedantische Pochen auf den Lärmschutz scheint Vielen unverständlich. Wann, wenn nicht am Sonntag, soll man denn auch sonst Zeit finden, Löcher zu bohren, Betten zu bauen oder die Waschmaschine anzuschmeißen? Und wehe, irgendjemand mäht den Rasen. Der freie Sonntag wird aus dieser Sicht mehr ein beschränkter. Ist denn dann nicht jetzt gerade die perfekte Zeit sich den Sonntag wieder zu eigen zu machen?

Der Sonntag kann in dieser Zeit aber nicht wie im eigentlichen Sinne als Unterbrechung des Alltag gesehen werden. Im Gegenteil, er ist in seiner schützenswerten Form das einzig alltaggebende. Denn, durch den Wegfall von Alltag könnte man meinen, dass jeder Tag ein Sonntag ist. Deshalb sind wir gefragt, den Sonntag eben so zu gestalten, dass er uns hilft, durchzuhalten. Zunächst sollte es ein freier Tag sein und zwar einer, wo ohne schlechtes Gewissen nichts geschafft wird. Keine Arbeit, nicht mal ein Stück, nicht mal eine 15-minütige Onlinesitzung. Schafft man sich an Sonntagen Regelmäßigeit, können wir uns auch die rituellen Vorteile eines Sonntags zunutze machen. Das Selbstbefüllen mit Dingen, die nicht Arbeit (oder das schlechte Gewissen dabei) sind, ist ohne Zweifel eine schwierige Aufgabe. Aber ein Tag in der Woche ist sicherlich einfacher als gleich alles umzustellen. Er kann dabei, fernab von seinem ursprünglichen Sinne sogar anarchistisch sein. Ein Tag Akzeptanz der Situation und davon, dass wir nichts an ihr ändern können. Und wenn wir es schaffen, den Sonntag wieder wertzuschätzen, dann kann er unsere Woche einrahmen, wir können uns so, von Woche zu Woche hangeln und uns vielleicht auch mal dran erinnern. Ein ritueller Tag, macht diese Zeitsuppe vielleicht ein bisschen greifbarer. Vielleicht erzählen wir uns nächstes Jahr eine Geschichte, die so beginnt: “Weißt du noch, der 22. Sonntag 2020, ….” . Okay das wäre auch ein bisschen spießig. 

PS: Vielleicht ist ja euer Sonntag auch ein Montag oder jeder andere beliebige Tag der Woche. 

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