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Wandel & Nostalgie – Eine Laudatio auf die Krämpfervorstadt

Dass sich etwas verändert in der Krämpfervorstadt, kann man derzeit unschwer erkennen. Die Geh- und Radbrücke Schmidtstedter Knoten, die den Hauptbahnhof mit der Krämpfervorstadt verbindet, wurde jüngst abgerissen und wird nun durch das sogenannte Promenadendeck ersetzt. Inwiefern die baulichen Schäden der alten Brücke, ein Relikt aus der DDR-Zeit, mit zahlreichen After-Raves nach langen Kalif-Nächten zusammenhängen, ist hierbei unklar.

Doch der Brückenneubau ist nur der Auftakt einer Reihe von Veränderungen, die in den kommenden Jahren auf die Krämpfervorstadt zukommen werden. Grund dafür ist das Stadtentwicklungsprojekt „Äußere Oststadt“, das zwischen den Fachhochschulstandorten an der Leipziger Straße und der entstehenden „ICE-City-Ost“ entlang der Bahnstrecke nach Weimar einen „neuen, energieeffizienten und urbanen Stadtteil“ entwickeln soll. Klar ist, dass die damit verbundenen Bauvorhaben das Gesicht der Krämpfervorstadt grundlegend verändern werden. Familien- und altersgerechter Wohnraum sowie Grün- und Spielplatzangebote ersetzen dann Industriebrache, Rückzugsorte und Lost Places. Mittel- und langfristig ist sogar die Anbindung des Stadtteils durch eine neue Stadtbahnlinie geplant.

Diese geplanten Veränderungen nehmen wir zum Anlass, um die Krämpfervorstadt nochmal so zu zelebrieren, wie sie ist – nämlich als quicklebendiges ehemaliges Arbeiterviertel mit Industriecharme, in dem sich heute vor allem Studierende und junge Familien pudelwohl fühlen. Wir nehmen euch mit auf einen (fiktiven) Spaziergang durch die Krämpfervorstadt und führen euch zu jenen Orten, die den Erfurter Osten besonders lebenswert machen.

Der Abstieg von Himmel zu Hölle. Oder auch: Der Gang durch die
Unterführung von der Krämpfervorstadt in Richtung Innenstadt.

Wir wählen den Schmidstedter Knoten als Startpunkt unseres Spaziergangs – denn dort läuten schon jetzt Bauzäune, Bagger und orange gekleidete Bauarbeiter einen Wandel ein. Vom Hauptbahnhof kommend fällt der Blick beim Betreten der Krämpfervorstadt zuerst auf ein großes Graffiti auf der Seitenwand eines Wohnhauses. Bis vor wenigen Jahren zierten noch die gekreuzten Zeige- und Mittelfinger die Hauswand, bis sie von einem XXL-Graffiti eines brillenputzenden Mannes abgelöst wurden. Die Message dahinter vermutlich: Augen auf – jetzt kommt die Krämpfervorstadt!

Es geht die Thälmannstraße hinauf in Richtung Leipziger Platz. Auf dem Weg stärken wir uns mit einem Halloumi-Kebab mit frittiertem Gemüse beim Firat Döner – im selbstgemachten Brot und mit Spezialsauce versteht sich. Bilden Thälmannstraße, Leipziger Straße und Iderhoffstraße die Hauptschlagadern der Krämpfervorstadt, so ist der Leipziger Platz ihr pulsierendes Herz. Im Sommer planschen hier Kinder unbeschwert in der Fontäne, lesen Studierende seelenruhig Bourdieu auf der Parkbank und genießen Trinkfeste ihr angewärmtes Sternburg-Bier auch gerne schon zur Mittagszeit. Vom tosenden Lärm der Autos und Straßenbahnen umgeben – was könnte es Schöneres geben?

Wir shoppen flott eine Mate beim „Durst?Löscher!“-Getränkeshop, dem auf Google Maps selbst ernannten „Einzelhandelsmonopol für alkoholische Getränke“. Eines der wenigen Monopole, die man wohlwollend unterstützt. Von dort aus schlendern wir die Rathenaustraße hinab (Hand aufs Herz: Wer kennt nicht mindestens eine Person, die in der Rathenaustraße wohnt?) und biegen ab in Richtung Lagune, einer grünen Oase inmitten der Krämpfervorstadt. Die kennzeichenlosen Autowracks des KFZ-An- und Verkaufs nebenan geraten bei Betreten der Lagune außer Blick, stattdessen befindet man sich in einem Dickicht aus jungen Birken- und Ahornbäumen und blickt auf mit Mangold und Zucchini bestückte Hochbeete. Das Urban-Gardening Projekt wurde 2006 ins Leben gerufen und lädt mit Feuerstelle, Outdoor-Küche und ganz vielen lieben Menschen zum Verweilen ein. Gegenüber der Lagune liegt der Nahkauf, in dem früher noch ein im Volksmund liebevoll als „Ghetto-Netto“ bezeichneter Netto war. Vollsortiment statt Discount – kann man hier schon von Supermarktgentrifizierung sprechen?

Ein einsamer Schornstein qualmt noch

Darüber sinnierend ziehen wir weiter und entdecken südlich der Iderhoffstraße versteckt einen Grünstreifen, der sich bis hin zum Güterbahnhof zieht. Auf dieser weitläufigen Industriebrache qualmt als letztes Überbleibsel eines ehemaligen Gas- und Kraftwerkstandortes einzig der Schlot des SWE-Wärmekraftwerks weiter friedlich vor sich hin. Ein kurzer Aufstieg auf eine der stehengebliebenen Gasleitungen ermöglicht einen romantischen Blick auf die Krämpfervorstadt – vom Zughafen bis zur alten Malzfabrik. Wir begegnen vereinzelt Studierenden, die sich zum Musizieren, Lesen oder Grillen in kleinen Grüppchen zurückgezogen haben, sowie Spaziergänger*innen, die ihren Hund „Rüdiger“ unaufhörlich auf Stöckchenjagd schicken. Entlang an einer liebevoll mit Graffiti besprayten Mauer, die sich weder vor der Graffitiwand im Berliner Mauerpark noch vor der John Lennon Wall in Prag verstecken muss, begeben wir uns wieder in Richtung Zivilisation. Ob Lagune, grüne Brachfläche und Graffitimauer die Entwicklung der „äußeren Oststadt“ überstehen werden, bleibt fraglich.

Wir verlangen für die letzten Meter nochmal nach einer Stärkung und treten in „Wamser’s Backshop“ in der Ruhrstraße ein. Dort empfängt uns eine freundliche Bedienung, auf ihrem T-Shirt prangt die Aufschrift: „Ich sehe vielleicht nicht aus wie ein Topmodel, aber dafür bin ich eine echt coole Bäckereifachverkäuferin!“. Inhaber*innengeführter Familienbetrieb seit 1968 – hier wird das Backhandwerk noch leidenschaftlich gelebt! Aber wir sind zu spät und haben Pech – der Kuchen, nach Oma Wamsers Rezept, ist leider schon ausverkauft. Die Philosophie: Lieber am Ende des Tages nicht mehr alles dahaben, als Essen wegzuwerfen. Dann morgen wieder!

Wir haben nämlich schon einen Alternativplan und gehen in die parallel verlaufende Iderhoffstraße, wo wir die unscheinbare „Bodega – Zur Backstube“ aufsuchen. Zu unserer Überraschung wird uns von Wirt Peter in der Bodega allerdings kein Kuchen, sondern eine exklusive Weinauswahl sowie Mojitos nach Originalrezept aus Ernest Hemingways Lieblingsbar in Havanna (Peters ganzer Stolz!) angeboten – und das für nur 3€. Wir genießen die Cocktails im idyllischen Weingarten im Hinterhof, während sich Peter im gemütlichen Inneren der Bar wieder einer Arte-Doku zuwendet.

Als wir die Bodega wieder verlassen, halten wir vor dem gegenüberliegenden Wahlkreisbüro des AfD-Bundestagsabgeordneten Stephan Brandner, einem der wenigen ernüchternden Orte der Krämpfervorstadt, kurz inne. Auch wenn die AfD mit der Krämpfervorstadt, wie ich sie kennengelernt habe, wenig zu tun hat, muss man wohl lernen, damit umzugehen, dass sie inzwischen omnipräsent ist. In Großbuchstaben ist die Aufforderung „DENK MAL!“ an die Hauswand gesprayt – ausdrucksstarker Vandalismus der kreativen Art!

Auf dem Weg zur finalen Station unseres Spaziergangs, dem Zughafen, passieren wir die alte Malzfabrik an der Ecke Iderhoffstraße/Thälmannstraße. 1885 im Auftrag vom Erfurter Malzproduzenten Johann Georg Wolff gebaut, war sie bis ins Jahr 2000 in Betrieb, bis die Produktion schließlich in die Nähe des Erfurter Nordbahnhofs verlagert wurde. Seitdem steht die denkmalgeschützte Industriestätte unangetastet inmitten der Krämpfervorstadt – bis jetzt. Denn Investor*innen wollen das Industriedenkmal bis 2022 in ein Wohnensemble mit hochwertigen Wohnungen umgestalten. Wer nochmal einen Blick vom Dach der Malzfabrik auf die Krämpfervorstadt erhaschen will, sollte sich also sputen.

Alte Malzfabrik

Wir erreichen schließlich den Zughafen am alten Güterbahnhof, den im Jahr 2002 von Clueso und Andie Welskop geschaffenen Kreativwirtschaftsstandort für Künstler*innen, Musiker*innen und Kreative in Erfurt. In einem leerstehenden Bürogebäude der Deutschen Bahn sowie angrenzenden Produktionshallen floriert seitdem die urbane Subkultur der Krämpfervorstadt. Im Kalif Storch tummeln sich donnerstagsabends zahlreiche Studierende und spielen bei entspannten Beats Rundlauf an der Ping-Pong-Platte, während samstags renommierte DJs bis ins Morgengrauen einheizen. Am Stattstrand oder der kleinen Rampe kommen bei Bierchen oder Espresso Sommergefühle auf, während unweit davon Handwerker*innen und andere kreative Köpfe ihren Traum zum Beruf machen. Das Konzept Kulturmeile plus Kreativwirtschaft mit Industriecharme überzeugt auf ganzer Linie. Bei allen zu erwartenden Veränderungen beruhigt es sehr zu wissen, dass der Zughafen dank des Kaufs der Fläche durch die Stadt Erfurt im Jahr 2018 auch in Zukunft Bestand haben und weiterhin als Anlaufstelle für die Kreativ- und Kulturszene dienen wird.

Am Ende unseres Spaziergangs durch die Krämpfervorstadt angelangt, richten wir unseren Blick auf die Veränderungen, die die städtebaulichen Maßnahmen in der Zukunft mit sich bringen werden. Dass Umgestaltung, Modernisierung und Wandel in manchen Teilen der Krämpfervorstadt bitter nötig sind, steht außer Frage. Denn schließlich ist auch nicht alles perfekt: Was fehlt ist beispielsweise ein nettes Café in FH-Nähe, das zum Verweilen einlädt. Sollte die Erschließung der äußeren Oststadt inklusive neuer Stadtbahnlinie dieses mit sich bringen, wäre schon einiges gewonnen.

Der Routenplan (mit freundlicher Unterstützung ausgewählter Gastronomiebetriebe in der Krämpfervorstadt)

Doch wie genau sich die städtebaulichen Veränderungen in den nächsten Jahren auf die urbane Subkultur der Krämpfervorstadt auswirken werden, ist schwer zu sagen. Der Grat zwischen Wandel und Destruktion ist häufig sehr schmal. Moderne Infrastruktur und neue Ausgleichsflächen (etwa ein Stadtteilpark) würden die Attraktivität der Krämpfervorstadt auch für Studierende weiter steigern, anziehende Mietpreise und fehlende Rückzugsorte wiederum würden Studierende eher verdrängen. Darum bleibt zu hoffen, dass prägende Industriegebäude sowie Brachflächen als „grüne Oasen“ intelligent in ein neues, modernes Stadtbild integriert werden und so der romantische, industrielle Charme der Krämpfervorstadt auch in Zukunft erhalten bleibt.

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