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Auf einen Glühwein in… Greußen

Ein Text von und mit Johann und Johann.

Das dritte Auto innerhalb von zehn Minuten rauscht an uns vorbei. Links und rechts Felder und Wiesen. In knapp hundert Metern Entfernung ist ein Dreiseitenhof auszumachen. Johann entdeckt einige Münzen auf dem Weg, wir sammeln knapp einen Euro zusammen. Erstaunlich, fühlen wir uns doch wie die einzigen Fußgänger*innen, die seit einer Ewigkeit hier vorbeigekommen sind. Wo wir sind? Irgendwo an der Landstraße zwischen Greußen und Grüningen. Irgendwo in Thüringen.

Johann und ich haben beschlossen, den Sonntagsspaziergang wieder aufleben zu lassen. Aber nicht die Klassiker, nicht im Steigerwald, nicht an der Geraaue, auch keine Runde durch die Erfurter Altstadt vorbei an Krämerbrücke, Dom und den rundum erneuerten Altbauten. Stattdessen treffen wir uns am Bahnhof, nehmen den nächstbesten Zug und steigen da aus, wo es uns gefällt. Mit der Thoska als Ticket und einer Thermoskanne voll Glühwein im Rucksack. Heute fährt unser Zug nach Greußen.

Angekommen am Bahnsteig in Greußen.

Dort ist vorübergehend Endstation. Später erfahren wir, dass dies schon seit ein paar Monaten der Fall ist. Eine ältere Dame steigt mit uns aus, sie möchte noch weiterfahren nach Sangerhausen. Mithilfe der Schaffnerin findet sie den Weg zur Haltestelle des Schienenersatzverkehrs. Sie fährt die Strecke nicht so oft. „Einen schönen Sonntag noch!“

Das erste, was wir nach dem Kennenlernen der Dame in Greußen zu Gesicht bekommen, ist eine Spielhalle – gegenüber die örtliche Kneipe und eine Straße weiter die Volksbank. Wir kommen an der Kirche vorbei, die Gesangbücher werden gerade eingesammelt. Ein Greußner erlaubt uns, noch einen kurzen Blick in das Kirchenschiff des 600-jährigen Gotteshauses zu werfen, bevor die Türen von St. Martini abgeschlossen werden. Danach passieren wir das Rathaus, die Fußpflege, zwei Spielwarenläden, ein Pflegeheim – und das Kulturhaus, das wohl lange niemand mehr betreten hat. In roten Lettern prangt an der Eingangstür: „Stadträte, rettet unser Kulturhaus!“ Dass die Rettung nicht geklappt hat, wird nach einem Blick durch die verstaubten Fensterscheiben offensichtlich. Selbst dem erwähnten Schriftzug ist schon der ein oder andere Buchstabe verloren gegangen. 

Obwohl der im Juli gewählte Bürgermeister Torsten Abicht Kultur auch (wieder) aufs Land bringen möchte, scheint hier also nicht so viel zu passieren. Ideen gibt es – für das Kulturhaus, aber auch für die ehemalige Schokoladenfabrik, für die die Abrisspläne eigentlich schon gemacht sind. Eine Gruppe Masterstudierender der Fachhochschule Erfurt beschäftigt sich mit dem Gebäude und der Frage, wie Grenzen zwischen Stadt und Land aufgelöst werden können. Ein Konzept sieht Wohnen und Arbeiten an einem Ort vor, perfekt angebunden durch Bahnhofsnähe und abgeschlossenem Glasfaserausbau. Die Modernisierung des Gebäudes kostet aber ein Vielfaches der Abrisskosten – die Entwürfe der Studierenden werden also leider bloße Prüfungsleistungen bleiben.

Greußen ist an diesem Morgen ähnlich verschlafen wie wir. Auch der Hof der Grundschule wirkt verwaist. Wird hier wohl noch unterrichtet? Wir kommen zu dem Schluss, dass die letzte Einschulung schon etwas her sein muss. Im Nachhinein lese ich, dass sich eine Interessengemeinschaft für eine vielfältige Nutzung der geschlossenen Schule einsetzt, eine digitale Ideenplattform soll es geben. Zur Diskussion stehen z.B. ein Seniorencafé oder ein Jugendhaus. Das ist doch mal was!

Hinter der Grundschule endet Greußen. Jetzt sind wir da, wo wir eigentlich hin wollten – in der Thüringer Natur, im “grünen Herzen Deutschlands”. Wer sich jetzt vorstellt, dass wir querfeldein über Äcker, durch Wälder und über Flüsse und Berge wandern, den müssen wir leider enttäuschen. Wir folgen der Landstraße in den nächsten Ort. Nach besagtem Münzfund entscheiden wir uns nicht dazu umzukehren und in der Greußener Spielhalle unseren neuen Reichtum zu verspielen. Wir gehen weiter, in Richtung Grüningen. 

Kurz vor dem Ortseingang erreichen wir ein Schild. “Ende” steht unmissverständlich darauf. Wir passieren dennoch, denn wo ein Ende ist, da muss auch ein Anfang sein – Ortseingang Grüningen, Ortsteil von Greußen. 

Ende. Oder Anfang?

Mich beschleicht so langsam das Gefühl einer Zeitreise. In Grüningen gibt es noch überirdische Strom- und Telefonkabel. Die Autos sind aus den 90ern, die Häuser entweder in klassischem DDR-Grau gehalten oder in den Fassadentrends der 90er und 2000er – Mintgrün und Pastellgelb. Ich merke ironisch an: “Wenn die ARD mal wieder einen Film über das Leben in der DDR dreht, dann hat sie eine Kulisse in Greußen und Grüningen.” Die Anmerkung soll kein Ausdruck von Überheblichkeit sein. Sie ist eher das Ende eines Gedankens, an dem ich mir die unbequeme Frage stelle, warum dieser Thüringer Landstrich irgendwo zwischen Wiedervereinigung und Einführung des Euros eingeschlafen ist und anscheinend in Erfurt und Berlin vergessen wurde. Auf die Frage gibt es wahrscheinlich unzählige Antworten, wie Landflucht, Arbeitsplatzmangel, den übergreifenden Vorrang von Zentren wie Erfurt, Jena, Gera in der Politik. Ich versuche den Gedanken hinter mir zu lassen.

So unvorhergesehen, wie wir nach Grüningen gekommen sind, verlassen wir den Ort auch wieder. Auf einmal ist er einfach vorbei. Uns verschlägt es auf einen Feldweg, der eine ganze Zeit einem kleinen Bach folgt. Am Rande liegt ein umgefallener, schon etwas vermoderter Baumstumpf. Wir beschließen, dass es endlich Zeit ist für eine Pause und für den Glühwein – wozu sind wir schließlich unterwegs? Wie ihr wahrscheinlich alle wisst, lässt es sich bei einer Tasse Glühwein irgendwo in der Natur gut über die großen Fragen der Zeit sinnieren. Das tun wir auch und kommen zu dem Ergebnis, dass Social Media eigentlich viel zu viel Zeit klaut. Unser Ausflug wirkt sich nachhaltig auf unser Leben aus – diverse Anwendungen werden kurzerhand vom Handy verbannt. Der Glühwein ist mittlerweile leer und trotz des wärmenden Getränks macht sich die Kälte langsam bemerkbar. Unser Weg folgt noch etwas dem Bach, der uns zurück nach Greußen führt.

Hier angekommen scheint es so, als ob Greußen auch nachmittags eher auf Ruhe und Entspannung als auf das wilde Leben setzt. Auf dem Weg zurück zum Bahnhof begegnet uns dann aber doch noch der*die ein oder andere Greußner*in. Wir grüßen freundlich. Sie grüßen freundlich zurück. Der Weg zum Bahnhof, vorbei an Spielhalle und Kneipe, ist dann doch schneller geschafft als gedacht. Zum Glück steht der Zug schon da und lässt uns nicht in der Kälte warten. So fix wie wir nach Greußen gekommen sind, sind wir auch wieder in Erfurt. Mitgebracht haben wir neben vielen thüringer Eindrücken die wunderbare Idee am nächsten Sonntag doch wieder auf einen Glühwein unterwegs zu sein. Irgendwo in Thüringen.

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