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EFA – Erfurter Forum Asphaltnomad:innen

Kommt vorbei und redet mit

Der Begriff Nomadismus ist von so vielen Vorstellungen überlagert, dass es schwierig ist, einen unverstellten Zugang zu einem realistischen Bild davon zu bekommen. Als Gegenstück zur Sesshaftigkeit wird er sowohl historisch als auch kulturell und geographisch einem anderen Raum zugeordnet. Dabei entsteht eine eindeutige Hierarchie: Das nomadische Leben stellt eine Vorstufe zum sesshaften dar, sesshafte Kulturen sind nomadischen überlegen.

Zwischen Romantisierung und Diskriminierung

Umgekehrt wird nomadisches Leben oft romantisiert. Als radikales Gegenmodell zur westlichen Kultur und Lebensweise muss es dann herhalten für die Wünsche und Sehnsüchte von sesshaft lebenden Menschen, die diese Kultur kritisieren und Alternativen finden wollen. Wie nomadisches Leben tatsächlich aussieht, mit welchen Schwierigkeiten es zurecht kommen muss, wird dabei oft verklärt. Menschen bauen ihren Van aus und verwirklichen ihren Traum vom nomadischen Lifestyle in Form einer Weltreise. Zusammen mit den digitalen Nomad:innen, also ortsunabhängig und ausschließlich digital arbeitenden Personen, stellen sie moderne nomadische Figuren dar. Dieser meist selbstgewählte Nomadismus unterscheidet sie natürlich von Menschen, die aus kulturellen Gründen oder aus Not nomadisch leben (müssen).

Wie vielfältig nomadisches Leben ist, gerät hinter diesen neuen Figuren, die medial auf Instagram, Youtube oder Serien sehr präsent sind, leicht in Vergessenheit. Die Mehrheitsgesellschaft hat nomadische Lebensweisen überlagert und verdrängt. Die Nazis ermordeten Fahrende, nach 1945 folgten restriktive Gesetze. So sind die Nomad:innen aus der öffentlichen Wahrnehmung größtenteils verschwunden.

Das „Erfurter Forum Asphaltnomad:innen

Das „Erfurter Forum Asphaltnomad:innen“ (EFA) nimmt sich zum Ziel, auf die Lage der in Deutschland nomadisch lebenden Menschen aufmerksam zu machen. Bei der Veranstaltung am 30.6. in der Frau Korte sollen Reisende und sesshaft lebende Menschen miteinander ins Gespräch kommen können, es soll um die Probleme und Belange einer nomadischen Lebensweise gehen.

Das EFA holt sowohl Reisende und deren Nachfahren als auch die Popkultur in den Diskurs hinein. Melle M. und Birte L. vom Leipziger Wagenplatz karl-helga werden einen persönlichen Einblick in das Leben dort geben. Der Wagenplatz ist ein soziokulturelles Zentrum und ein Begegnungs- und Vernetzungsort im Viertel. Ihr Vortrag thematisiert das Wagenplatz-Leben in einer juristischen Grauzone. Welche rechtliche Herausforderungen, welche gesellschaftlichen Chancen birgt dieser Lebensentwurf?

Eine zweite Keynote wird von Jakob Kronenwetter gehalten. Der 74-jährige jenischer Herkunft beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit der Minderheit der Jenischen in Deutschland. Im Anschluss gibt es dann eine Fishbowl Diskussion, in der die Gegenwart und Zukunft nomadischer Lebensweisen in Deutschland und darüber hinaus diskutiert wird. Wie sieht die Gegenwart und Zukunft semi-nomadischer Lebensformen in Deutschland aus? Was sind Bedarfe und Wünsche fahrender Menschen in Deutschland? Was für Räume brauchen sie? Diese und weitere Fragen werden Thema sein, das Publikum darf sich gerne beteiligen.

Am Veranstaltungsort wird die kleine Ausstellung “Vaga-Wanderkoffer” die Wände füllen und färben. “Der Koffer beinhaltet die Dokumentation des Projekts vagabundenkongress2020, Spuren der Vagaktivistas, die entstandenen Vagazine, Propaganda, Kunstdrucke, Bilder des Kongresses im August 2020 in Berlin, Musik, Requisiten, Nachhall, Pläne und Utopien. Da passt viel rein!”, meint der Künstler Beat Gipp. Motive des Straßenlebens und der Vagabondage mischen sich mit Wohnungslosigkeit, Forderungen für die Straße und Pseudopropaganda. Am Abend wird dann ein speziell für die Veranstaltung kuratiertes Filmprogramm zum Thema “Nomad Properties” gezeigt, anschließend gibt es Musik.

Der „Vaga-Wanderkoffer“ von Beat Gipp

Das EFA wird von einer Kooperation einer Forschungsgruppe der Uni Erfurt mit der Filmemacherin Anna Friedrich veranstaltet. Es ist damit Teil der Konferenz “Nomad Properties” der Uni, die einen Tag später beginnt. Die Konferenz selbst widmet sich am 1. und 2. Juli der Theorie rund um die Entwicklung des Begriffs Nomadismus seit dem 18. Jahrhundert und untersucht den Zusammenhang zwischen nomadischen Strukturen und Eigentum. Sie findet im Veranstaltungshaus Kleine Synagoge in der Innenstadt statt. Hier kommen Wissenschaftler:innen aus Deutschland, Polen, Großbritannien, China und Russland zusammen, die sich aus vielfältigen Perspektiven mit dem Verhältnis von Nomadismus und Eigentum befassen.

Veranstalterin Anna Friedrich konnte uns einige Fragen beantworten:

Warum beschäftigst Du Dich mit dem Thema?

Der Vagabund, als sagen wir mal soziale Figur, lässt sich zwar nicht greifen, spukt mir aber schon seit Jahren durch die Gedanken. Fahrende, vagabundische und semi-nomadische Lebensweisen in Deutschland sind unsichtbar, selten und unterliegen zum Teil starker Diskriminierung. Deswegen möchte ich mich diesen Lebensweisen widmen.”

Was erhoffst Du Dir von der Veranstaltung?

Ich würde mich freuen, wenn die eingeladenen Individuen und Gruppen sich miteinander austauschen und bin gespannt, was sie sich zu sagen haben. Gibt es gemeinsame Anliegen, Probleme, Wünsche? Vielleicht sind die Lebensweisen aber auch so unterschiedlich, dass alle eher für sich sprechen und die Welten der anderen sich bis zu einem gewissen Teil fremd bleiben?

So oder so, ein Zusammenkommen mit der Möglichkeit des Gesprächs außerhalb der Alltagslinien finde ich stets wertvoll und hoffe, die Anwesenden erleben eine gute Zeit. Für die Gäste, die selbst nicht unterwegs sind, hoffen wir, vielseitige Blicke auf ein von Klischees und Vorurteilen überfrachtetes, weites Feld zu liefern.”

Wie hängt die Veranstaltung mit Deinem Filmprojekt zusammen?

Sogenannte “Vagabundenkongresse” haben in Deutschland eine längere Geschichte, sie fanden bereits seit den Zwanziger Jahren mehrfach in verschiedenen Städten statt, noch heute berufen sich Wohnungslose, Künstler:innen, Anarchist:innen, Suchende darauf. In meinem Dokumentarfilm werden verschiedene fahrende und vagabundierende Personen einzeln bzw. in ihren Gruppen begleitet. Es interessiert mich, was geschieht, wenn sie in Austausch miteinander kommen. So kann der EFA Teil des Filmes werden, als eine Art Straßenkreuzung. Es ist ein Versuch, ein Angebot, und ob es letztlich angenommen wird, liegt nicht in meiner Hand.”

Das “Erfurter Forum Asphaltnomad:innen” beginnt am 30.6. um 14 Uhr, die Veranstaltenden freuen sich über jede:n, der:die nicht zur Fusion geht und Lust hat, ins Gespräch zu kommen über nomadisches Leben in Deutschland. Mehr Informationen: https://sfb294-eigentum.de/de/Nomadismus/

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