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Die Mauer, die Erfurt spaltete

In Erfurt steht eine Mauer und sie geht einmal quer über die Mainzer Straße im Rieth. Die 20 Meter lange und ca. 1,60 Meter hohe Reihe aus Betonklötzen erinnert auf den ersten Blick an übergroße Legosteine und scheint das kindische Verhalten der beteiligten Personen widerzuspiegeln. Am 24. Mai 2022 tauchte sie hinter der Vilnius-Passage plötzlich auf und spaltete das Rieth damit seit je her in zwei Seiten. Eine, die weiterhin in ihrem Glanz erstrahlen kann und die andere Seite, die seitdem in Schmutz versinkt.

Ein Nachbarschaftsstreit, der eskalierte

Das Mysterium um den geheimnisvollen Betonlegobauer wurde bereits gelüftet: Der Geschäftsführer der Werner Baubetreuungsgesellschaft aus Leinefelde, Hubert Werner, hat zur Spaltung Erfurts beigetragen. Offenbar ist der Mauer ein langanhaltender Nachbarschaftsstreit zwischen Hubert Werner und dem Inhaber der Vilnius-Passage, Helmut Henze, vorausgegangen. Grund dafür waren die Zufahrtsrechte der Straße. Sie wurde als Zufahrt zur Belieferung einzelner Geschäfte genutzt, Werner war dies offenbar nicht recht. Inwiefern ein Mauerbau diese Situation löst und ob das eine angemessene Konsequenz darstellt oder eher eine kleine Überreaktion ist, bleibt fragwürdig und an dieser Stelle jedem/jeder selbst überlassen. Nachbarschaftsstreits kommen immer mal wieder vor, Menschen ziehen nebeneinander ein, ohne sich überhaupt zu kennen. Aber dass ein solcher Konflikt mit einer schlichten Teilung der Straße einhergeht, ist eine neue Art der Lösungsfindung.

Die Mauer der Mainzer Straße ist mittlerweile von Graffiti und Tags eingenommen worden.

Ist die ganze Sache nun legal oder hat die Werner Baubetreuungsgesellschaft hier lediglich ihre Macht der schweren Baustellenfahrzeuge ausgenutzt, denen gegenüber die normalen Lastwagen der Zulieferer machtlos sind? Legal ist das ganze Unterfangen offenbar schon. Oder zumindest bewegen wir uns hier in einer Grauzone. Der Stadt Erfurt ist beim Verkauf des Grundstücks inklusive der Straße ein kleiner bürokratischer Fehler unterlaufen: Für die Straße wurde keine Baulast vertraglich festgehalten. Lediglich diese vertragliche Vereinbarung hätte die Mainzer Straße vor der Spaltung retten können. Zwar ist die überdimensionale Legomauer sehr lästig und stört mit Sicherheit den Alltag einiger Anwohnenden, es hätte jedoch ohne vertraglich vereinbarte Baulast sonst was dort gebaut werden können. So hätte Hubert Werner die Straße auch irreversibel verändern können, durch beispielsweise einen Tunnel oder einen Tunnel inklusive einer Brücke darüber oder gar durch Grünbepflanzung – Gott bewahre. Die Klötze können immerhin in der Theorie wieder abgerissen werden. Und für diesen kleinen Fehler der Stadt lieben wir doch die deutsche Bürokratie.

Auf den Spuren der Mauerspechte

Blicken wir 33 Jahre zurück in die Vergangenheit. Die Berliner Mauer teilt Deutschland in Ost und West und ist den Menschen in jeder Situation allgegenwärtig. Einige beginnen kleinere Stücke des Gesteins herauszubrechen – die sogenannten Mauerspechte. Dabei handelt es sich entweder um Souvenirjäger:innen, Künstler:innen oder um politisch motivierte Taten. Scheinbar wurden die Erfurter:innen durch das Mainzer Mäuerchen direkt in DDR-Zeit zurückversetzt, denn mittlerweile waren auch hier schon Mauerspechte am Werk. Vielleicht war ihnen nicht bewusst, wie mit einer Mauer anders umzugehen ist? Handelten sie aus reiner Gewohnheit? Oder ist das bloß pure Ironie?

Die Mauerspechte Erfurts waren bereits am Werk.

Wir wollen hinter die betonharte Fassade der Spechte blicken: Wer sind sie? Was bewegt sie? In welchem Wohnzimmer ist nun ein Stück Erfurter Mauer eingerahmt neben dem Foto des Familienhundes?

Die Tatsache, dass sich Menschen durch eine kleine 1,60 Meter niedrige Mauer direkt wieder an die große Berliner Mauer erinnert fühlen und daher auf jeden Fall ein Andenken haben wollen, ist irgendwo auch süß. Ja, unser Mäuerchen hat bei Weitem nicht das Ausmaß der Berliner Variante und ist ohne Frage politisch eher minder relevant. Aber sie wird von den Erfurter:innen trotzdem als kleine Schwester der großen angesehen und als vollwertige Mauer behandelt. Hat nicht irgendjemand mal gesagt, Leipzig sei das neue Berlin und Erfurt sei das neue Leipzig? Im Umkehrschluss scheinen wir uns als neues Berlin schon zu versuchen, in die großen Fußstapfen zu treten.

Das Chaos nimmt überhand

Aber wie geht es nun weiter mit der gespalteten Mainzer Straße und den Bergen an Müll hinter der Vilnius-Passage? Während der Streit vor Gericht ging, sorgte die Mauer für Chaos jeglicher Art im Rieth. Um den MDR zu zitieren: „Ortsteilbürgermeister Wilfried Kulich versteht die Welt nicht mehr“ – und wir auch nicht. Die Riether:innen scheinen ähnlich verwirrt; zwei pinke und ein grünes Fragezeichen wurden Antworten fordernd und – wie ich finde – recht passiv aggressiv mitten über die Mauer gesprayt. Dramatische Szenen spielen sich mitunter im Erfurter Stadtteil ab. Durch die Mauer ist die Zufahrt für Lieferant:innen gesperrt, sodass der Textil-Discounter Kik nicht mehr beliefert und der Müll der Einkaufspassage seit Tagen nicht mehr abgeholt werden kann. Bestimmte Eingänge zu Geschäften sind nicht richtig erreichbar, eine Ladestation (wahrscheinlich eine der einzigen im Umkreis) für E-Autos ist versperrt und Schulkinder müssen auf ihrem Weg die Steine erklimmen. Den Erfurter:innen stinkt die ganze Situation mittlerweile jedenfalls gewaltig. Wenn man die Werner Baubetreuungsgesellschaft im Internet sucht, springt einem der eine gelbe Stern der Google-Bewertungen direkt aufdringlich ins Auge: Das wird wohl Konsequenzen haben! Am liebsten möchte ich Euch mein Altglas vor die Tür kippen! Die Stadtwerke werden das schon regeln. Kindische peinliche Aktion!!! ist die aktuellste Rezension, ergänzt durch mehrere Bilder der Mauer von jeder erdenklichen Perspektive. Direkt darunter fordert Nutzer Sebastian: Mauert euch ein und nicht unser Erfurt wir wollen euch hier nicht also ‚Raus mit den Viechern‘. Die Erfurter:innen können den Streit also offenbar nicht nachvollziehen. Der Hass richtet sich ungefiltert gegen die Werner Baubetreuungsgesellschaft. Der Geschäftsführer äußert sich hingegen eher weniger zu der gesamten Situation und ist auch auf unsere Anfragen nicht zu erreichen.

Die riesigen drei ??? auf der Mitte des Betons scheinen die gesamte Situation recht gut zu beschreiben.

Inzwischen wurde Hubert Werner von der Macht des Staates in die Knie gezwungen und musste nachgeben. Am 01. Juli 2022 sorgte er für den Beginn der Abrissarbeiten an den großen Legosteinen aus Beton. Die Mauer wird den Erfurter:innen trotzdem noch eine Weile in Erinnerung bleiben, den Mauerspechten wohl auch noch länger. Für eine kurze Zeit trat das kleine Erfurt in die großen Fußstapfen Berlins und irgendwie scheint die Stadt auch ein wenig stolz darauf zu sein.

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