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Die Leiden des jungen Whiny Boys

Sie ziehen durch das Land wie eine Plage, sie überfluten Konzerthallen, strömen über Festivalgelände, füllen Spotify-Playlisten. Fans kreischen, wenn sie die Bühne betreten, und basteln Schilder mit romantischen bis sexuellen Angeboten. Auch Erfurt wird nicht verschont: Egal ob Kalif, Zughafen, Engelsburg oder Petersberg, sie schleppen ihre Gitarren (oder anderen Musikinstrumente) überall hin.

Aber um wen geht es eigentlich? Darf ich vorstellen: Die Whiny Boys.

Die Story des Whiny Boys: Leben einfach hart

Was genau ist aber ein Whiny Boy? Ein Whiny Boy ist ein meist weißer, deutscher Künstler, der vor allem (in die Brüche gegangene) heterosexuell gelesene Zweierbeziehungen besingt. Der Inhalt ist häufig wie folgt: Der Whiny Boy ist traurig, weil sich seine Herzensdame seit ein paar Tage nicht bei ihm gemeldet hat. Eigentlich ist es ihm aber auch egal. Aber bisschen gemein ist es schon. Er hat sich natürlich auch nicht gemeldet. Hätte er machen können. Wäre aber doch zu anstrengend gewesen, außerdem hätte er dann Gefühle zugeben müssen und das: bäh. Also sitzt der Whiny Boy in seinem Dachgeschoss-Zimmer auf seinem Paletten-Bett, alternativ auch bei Sonnenuntergang auf dem Balkon, raucht die Zigarette zu Ende und packt seufzend seine Gitarre aus, um ein Lied über diese Tragödie zu schreiben, die er Leben nennt. Damit sein Leid zumindest einen Sinn hat. Dabei sind die Texte gerne in Du-Form geschrieben, weil: einprägsam. So können alle Hörer*innen so tun, als wären sie gemeint, wenn der Whiny Boy singt, dass er sie vermisst, es aber auch so okay ist und man sowieso nicht zueinander gepasst hätte.

Disclaimer: Dieser Artikel richtet sich gegen Whiny Boys. Sollten sich Leser*innen dadurch angegriffen fühlen, weil sich Whiny Boys auch in ihre Spotify Playlists und Festival Must Sees eingeschlichen haben, empfehle ich, diesen Artikel zu skippen. (Dabei muss ich natürlich festhalten, dass auch ich Whiny Boy Musik höre. Allerdings sehe ich kein Problem darin, diese auch mal in berechtigter Form zu kritisieren.)

Oh mein Gott, er ist so deep

Damit „Whiny Boy“ nicht einfach eine leere Bezeichnung bleibt, möchte ich hier einige Urtypen darstellen und vor allem das, was mich an ihnen so auf die Palme bringt.

Zweiter Disclaimer: Der nächste Abschnitt stellt ein kleines Ratespiel dar, welcher Musiker wohl gemeint ist. Have fun!

Der Sad Boy

Der Sad Boy hat es einfach am schlimmsten. Immer und überall. Viel schlimmer als alle marginalisierten Personengruppen oder Menschen, die über Musik die Ungerechtigkeiten zum Ausdruck bringen, die ihnen widerfahren. Dass das Herz des Whiny Boys so dolle schmerzt und er seine Beziehungsperson jetzt nicht mehr hat, macht ihn instantly zum bemitleidenswertesten Menschen der Welt.

Der echte Künstler

Er hat eine dubiose Beschreibung auf Spotify, er hat funky Songtitel, er hat noch nicht genug Lieder, um eine halbe Stunde Spielzeit auf einem Festival zu füllen – weil er die Kommerzialisierung von kreativem Gedankengut ablehnt und einfach KUNST machen will. Ansonsten aber eigentlich ganz sympathisch bedankt er sich nach dem Konzert natürlich inbrünstig beim Publikum, vor allem weil ihm dieses Rosen auf die Bühne geworfen hat. Als Erinnerung an seinen Namen, den er laut Songtext beim In-die-Augen-Schauen mit seiner Herzensperson vergessen hat. Super sweet.

Der Nice Guy

Diesem Whiny Boy ist erstmal nur schwer etwas vorzuwerfen. Er wirkt halt einfach nett. Man könnte zwar sagen, dass seine Musik etwas langweilig ist und sich hauptsächlich für nettes Geschunkel und Schwenken der Handykamera bei aufkommender Dunkelheit eignet, aber so ist das eben. Seine Lieder bestehen gefühlt immer aus drei sich ständig wiederholenden Zeilen, zum Beispiel über den Urlaub in Wien, den er so schön fand, vor allem, weil die Fassaden so hübsch waren. Wow, innovativ. Meine Mitbewohnerin sagt trocken: „Hä, voll smart von dem. Der hat einfach die Aufmerksamkeitsspanne seiner target audience verstanden.“ Wenn man aber mal tiefer in Playlists eintaucht, findet man Lieder, in denen der Nice Guy seiner Ex-Dating-Person sagt, sie solle doch ohne schlechtes Gewissen mit anderen schlafen, er mache das auch und habe sie ja eh nie geliebt etc. etc. Das würde ich dann doch eher als kindisch bis problematisch einstufen.

Der Frauenversteher

Der Frauenversteher kennt sie einfach, die Frauen, mit ihren kleinen Problemchen, ihren Shopping-Ticks, ihrem Geheule, ihren Vater-Komplexen. Ist da aber natürlich ganz verständnisvoll. Kann ja nicht jede*r dem starken Geschlecht angehören.

Das Kommunikationsgenie

Dieser Typ nutzt Song-Writing vor allem, um in Liedtexten genau das auszudrücken, was er der Beziehungs- oder Dating-Person nicht direkt hat sagen können. Häufig geht es um schlecht umgesetzte Trennungen oder ausgelaufene Liebesszenarien, die aufgrund mangelnder Gesprächsbereitschaft von Seiten des Whiny Boys schiefgegangen sind. Man hat sich nicht beieinander gemeldet, sich lange nicht gesehen, könnte ja mal anrufen. Macht man aber nicht. Weil es ja peinlich wäre, einen Korb zu riskieren. Den packt besagter Whiny Boy dann lieber mit Obst, genauer gesagt mit Drachenfrüchten, die ja, genau wie die besungene Liebe, nach nichts schmecken. Guten Appetit.  

Der fast schon Reflektierte

Dieser Whiny Boy ist ein Erweiterungspack des Kommunikationsversagers (ääh -genies). So einer war er nämlich auch mal, hat das eigene Handeln aber mittlerweile hinterfragt, steht jetzt da und überlegt: Bin ich vielleicht das Problem?Dass die Antwort meistens Ja!!! lautet, bedeutet aber nicht, dass es in einer Verhaltensänderung resultiert.

Der Pseudo-Progressive

Liebe zu dritt? Beim Lesen des Songtitels bin ich erstmal stutzig geworden. Oh mein Gott. Wow! Könnte es sein, dass hier mal eine Whiny Boy-Gruppe nicht ausschließlich über die Paarbeziehung zwischen Frau und Mann singt? Polyamore Repräsentation im deutschen Mainstream? Ach ne, doch nur du und ich und der Sommer.

Der Testo-Boy

Dieser Musiker hat größtenteils Partylieder, auf die vor allem testosterongesteuerte Achtzehnjährige abgehen, die ihre Verzweiflung über fehlende Nähe im Leben gerne in Moshpits rauslassen, wo sie alle anderen Konzertbesucher*innen umnieten. Die Lieder zeigen dann aber, dass das exzessive Partyverhalten, das in den Texten zuerst glorifiziert wird, eigentlich daher stammt, dass der arme Bre ein gebrochenes Herz hat und dadurch natürlich berechtigt ist, sich wie ein Idiot zu benehmen und Frauen nicht mehr respektieren zu müssen. Ist ja klar, oder?

Ein Whiny Boy-Selbstversuch

Natürlich konnte ich mich diesem komplexen Thema nicht nur auf der Theorieebenen nähern. Ein Selbstversuch war also gefragt! Mit meiner frisch gegründeten FLINTA* only Band The Whiny Boys schrieb ich also an einem schönen Sonntagabend den Hit „ICE 750“. Und ich muss sagen, fun macht das Whiny Boy-Dasein ja schon:

mit der regionalbahn an die ostsee fahren

die landschaft zieht vorbei

mit dir fühl ich mich so frei

ich nehme deine hand

wir laufen barfuß über´n strand

die wellen sind gebrochen

und du hast mir versprochen

dass es immer so bleibt

dass es immer so bleibt

© The Whiny Boys, ICE 750

Tatsächlich sind wir ziemlich stolz darauf, dass wir in einem etwa 3-minütigen Song ausgekommen sind, ohne Herz auf Schmerz zu reimen. Und eigentlich fühlt sich diese Romantisierung einer fiktiven Liebesgeschichte schon ziemlich gut an. Drama kann halt auch geil sein. Aber gleichzeitig bin ich froh, den Song als Fiktion schreiben zu können und dass er eben nicht meinen letzten Break-Up behandelt, den ich ja sozusagen mit Songwriting als Therapie (weil wer braucht schon echte Therapie, wenn man eine hohe Reichweite auf Instagram hat?) überwinden kann.

Aber ich dachte, Männer sollen jetzt auch Gefühle zeigen?!?

Musiker haben es einfach nicht leicht. Jetzt ist sexistischer Deutschrap nicht mehr in, aber Whiny Boys machen es auch nicht richtig? Hä und nun? Um hier mal klarzustellen: Natürlich sollen alle Personen, unabhängig ihres musikalischen Talents, Gefühle zeigen dürfen. Was Whiny Boys meiner Ansicht nach aber so kritisierbar macht, ist die Tatsache, dass sie eigentlich entweder direkt Frauen für ihre Probleme verantwortlich machen (à la: die Blöde hat sich wieder nicht gemeldet oder sich für was Besseres entschieden) und gleichzeitig auf der eigenen, absoluten Handlungsunfähigkeit beharren (ich bin so unverstanden blabla). Whiny Boys zeigen Gefühle also immer nur hinter dem Schutzschild ihrer Musik und dann auch noch einem hundert bis tausendköpfigem Publikum.

Auf TikTok zeigt sich mittlerweile auch ein neuer Trend: Der Pick Me Boy. Er trägt seine Unsicherheiten lautstark nach außen, allerdings nicht, um sich wirklich vulnerabel zu machen und so eine echte Verbindung zu Menschen aufbauen zu können, sondern einfach, um sich von anderen Männern und ihrer typischen Männlichkeit abgrenzen zu können. Dabei zieht vor allem die Mitleidsnummer, weil der Pick Me Boy ja schon genau weiß, dass ihn die love interest sowieso verlassen wird, wie alle anderen zuvor es auch getan haben. Also nach dem Motto: „Ich bin eigentlich total sensibel und missverstanden und vielleicht ein bisschen sexistisch, aber nur unterschwellig und du darfst nicht böse sein, weil ich bin traurig. Und ich kann ja gar nicht misogyn sein, weil ich trage Nagellack, siehst du doch!“ Oft denke ich mir: Ja, wir alle haben Probleme. Und jetzt pack deine Gitarre weg, Junge.

Schlussendlich will ich nur sagen: Klar, hört Whiny Boys, aber sucht euch auch ein paar nice FLINTA* Künstler*innen, deren Songbotschaften öfter auch mal über Herzschmerz hinausgehen und die Frauenfiguren außerhalb des manic pixie dream girls darstellen, dass den Whiny Boy eigentlich hätte retten können, sich egoistischerweise aber für ein Leben außerhalb der romantischen Beziehung entschieden hat. Bitte, bitte.

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