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Der neue Halt der Linie Neun: Koju – Figures

Eigentlich ist es quatsch, wie sehr ich mich freuen kann, wenn mich jemand fragt, ob ich nicht nach Erfurt reisen will, nur um dann ein bisschen unbezahlte Schreibarbeit zu machen. Aber ich habe mir – ich sage das ganz unironisch und ihr könnt es nachschauen, wenn ihr wollt – wirklich eine dritte Arschbacke gefreut als Daniel mich gefragt hat, ob ich diesen Artikel schreiben will. Das hat mehrere Gründe, und die will ich euch jetzt erstmal kurz ausbreiten will bevor ich dann endlich mit meiner Arbeit anfange.

Erstens: Ich kenne Daniel aus dem Café in dem er arbeitet (Oma Lilo). Da hat er Fabi und mir immer Essen gebracht und ich finde ihn lustig und cool. Ich kriege gern Nachrichten von Daniel.

Zweitens: Ich wohne gar nicht mehr in Erfurt. Das hat höchstens ein paar mittelgute Gründe, und unsere kollektive Entschuldigung dafür haben wir hier schon formuliert, wir können uns also alle sofort wieder beruhigen und weiterlesen. Das heißt aber eben auch, dass ich mich besonders freue, wenn ich noch für andere Sachen nach Erfurt kommen kann, als immer nur zum ‚schwelgen‘. Das ist zwar ein hervorragender Zeitvertreib, aber eben auch einer der so sehr wie nichts anderes klarmacht, dass die Stadt in der ich mich eben gerade finde mit der Vergangenheit viel mehr zu tun hat als mit der Gegenwart. Das finde ich albern.

Drittens: Ich kann endlich wieder meinen selbstgebastelten Presseausweis um den Hals hängen. Das macht mir Spaß.

Viertens: Ich kann euch das neue Release der Linie Neun vorstellen, ein wirklich ganz vorzüglicher Fund für eure Plattensammlung.

Von diesen Gründen ist natürlich der vierte der wichtigste. Los geht’s also damit. Eigentlich haben wir schon einmal einen Artikel über die Linie Neun veröffentlicht. Jan Kunigkeit hat den geschrieben, und es geht um die Gründung des Labels und das erste Release. Seitdem ist aber einiges passiert – eine Pandemie zum Beispiel, das war was, eine nachgeholte Release-Party für die erste Platte der Linie Neun… und jetzt eben das zweite Vinyl-Release des Labels. Die Neueinwerbung der Linie Neun heißt Koju, bringt bald eine EP namens Figures raus, und hat es ganz schön in sich.

Koju und ich

Die Linie Neun stoppt nicht am Halt „Mainstream“, so viel war schon vor dem Hören klar. Doch als ich die baldige Neuerscheinung im Zug nach Erfurt schonmal vergenussferkeln durfte, war ich überrascht: ich finde, man hört der Platte total an, dass sich Daniel und Koju – der Künstler hinter dem neuen Release – im Retronom kennengelernt haben. Vielleicht ist es der Umstand, dass ich mich gut in einem verrauchten, mit Sprayer-Tags verkleideten Raum zu Kojus Musik tanzen sehen kann, oder es sind die vielen kleinen Wonnen, mit denen ich immer im Retronom gelandet bin, die ich da raushöre – diese sanfte Verspieltheit, diese Lust zum Versacken und die Liebe zur Apfelseife. So oder so, Koju nimmt mich auf eine Reise mit die viel mit der zu tun hat, für die ich zu diesem Zeitpunkt schon im Zug sitze. Eine Reise in die Winkel von Erfurt, in denen gute Musik noch eine Tugend ist.

Aber – und das ist vielleicht die zweite Überraschung meiner Reise – dieses Album ist keineswegs beschränkt auf seine Heimatwinkel. An diesem Morgen, an dem ich dieses Album zum ersten Mal höre, verlasse ich gerade Amsterdam in Richtung Erfurt. Und denke gleichzeitig: dieses Album kann Erfurt problemlos in Richtung Amsterdam verlassen. Mit Kojus EP „Figures“, gibt die Linie Neun eine Platte heraus, mit der ich mich sowohl zuhause auf dem grünen Stoffsofa liegen und der Musik lauschen, als auch durch die Innereien nebel- und lichtdurchfluteter Clubs schweben sehen will. Daniel schreibt mir auf meine Frage nach ein paar passenden Genre-Titeln, dass das Album „Lofi, Breakbeat, House“ beinhaltet. Meinetwegen. Für mich klingt das alles einfach nach einem guten Abend.

Musik: Erst einmal durch viele Hände, bevor sie in die Ohren geht

Aber ich habe mich ja nicht auf die Reise begeben, damit ich ein Album aus Erfurt im ICE nach Erfurt hören kann. Ich treffe Jacob – so der bürgerliche Name von Koju – und die halbe Gang der Linie Neun bei Haron, gleich am ersten Abend (@ungleich-gang, wann kommt die Insiderstory über den Split von Ibras??). Dort essen wir, und ich höre zu, wie die Gruppe – Maxou, Johannes, Julian und Daniel sind heute dabei – ein paar Interna über ihre Makali-Teller bespricht. Wie weit ist die Planung der Release-Feier? Muss noch was auf Bandcamp eingerichtet werden? Ich merke: so entspannt wie über ein Essen in entspannten Treffen läuft in dieser Gruppe wohl viel ab. Die Linie Neun ist eingespielt; obwohl es viel zu tun gibt, wissen alle Bescheid, was für den Release noch erledigt werden muss. Jacob sitzt dazwischen und träumt mit. Die Musik, klar, die ist seine. Für alles andere ist das Label mit am Tisch.

Das kann bedrohlich klingen: ‚mit am Tisch‘. Das aber hängt davon ab, wer da am Tisch sitzt. Und hier im ersten Stock bei Haron ist es eine Gruppe, die gemeinsam voller Leidenschaft für Jacobs Platte brennt. Mittendrin Jacob, für den es heute eine Überraschung gibt: die erste Pressung seiner Platte ist angekommen. Und, ehrlich, mit Ausnahme von Daniel kenne ich diese Leute nur über die Musik vom Zug. Aber diese leichte, zufriedene Aufregung die mit uns am Tisch sitzt, sie steckt mich an. Ich will die Platte auch endlich sehen.

Und so laufen wir mit Bier bewaffnet hinter die Krämerbrücke und setzen uns auf die Stufen. Dort bekommt Jacob einen Vinylcoverförmigen Karton gereicht (was da wohl drin ist?) und packt das Produkt vieler Hände Arbeit aus. Die Gera plätschert eine Weile genüsslich vor sich hin, bevor Jacob in seiner Ergriffenheit wieder die ersten Worte findet. „Noch nicht ganz real“ sagt er zum Beispiel, als ich ihn frage, wie sich das anfühlt, die eigene Platte in der Hand zu haben. Und merkt kurz danach an: „na, so schnell kann’s gehen“. Maxou meldet sich zu Wort und bekräftigt: „na, es hat uns eben von Anfang an alles abgeholt. Da kann das mal schnell gehen. Wie lange ist es jetzt her? Ein Jahr, vielleicht anderthalb?“. Und ich denke: „das ist wirklich nicht besonders schnell.“ Aber man muss eben Geduld mitbringen für Vinyl. Dieses Warten, scheint mir, zahlt sich aus. Jacob, in stillem Glück, dreht die Platte mehrfach um und lässt erstmal das Label reden.

Erfurt ist eben kein Standortnachteil

Irgendwann wird so ein Mission Statement obsolet, denke ich. Hoffe ich vielleicht sogar. Aber noch ist er brandaktuell, dieser Text den wir zur damals zur UNGLEICH-Gründung geschrieben haben. Zumindest in diesem einen Punkt: es ist doch wirklich grober Quatsch, dass sich das Kulturkonzept einer Region so gern an weit vergangene musikalische Erfolge lehnt. Und dabei irgendwie vergisst, ein wenig mehr mit der Musik zu kokettieren, die heute, jetzt gerade, aus Erfurt kommt. Die Linie Neun zeigt: das, was hier passiert, ist ganz und gar keine musikgewordene Anbiederung an Trends, die anderswo gesetzt werden. Und eben auch, dass die Arbeit aus Erfurt Kapazitäten abruft, die woanders vielleicht gar nicht existieren würden.

Denn ich habe mit den Jungs an diesem Abend auch darüber gesprochen, dass Erfurt bei der ganzen Nummer ganz und gar kein Standortnachteil ist; ganz im Gegenteil. Die Wege sind kurz, man kennt sich, oder lernt sich – wie Daniel von der Linie Neun und Jacob – über ein Bier im Retronom kennen. Und: dieses Netzwerk macht es möglich, ein Plattenlabel als Passion Project zu gründen, und nicht mit dem Zwang zum kommerziellen Betrieb. Die Jungs müssen nicht jede freie Stunde damit zukleistern, aus der Leidenschaft auch noch irgendwie Geld zu pressen, nur um die Miete für den nächsten Monat zu bezahlen. In Erfurt bedeutet das Scheitern im Kleinen kein Scheitern im Großen.

Dieses Scheitern im Kleinen gibt es natürlich trotzdem, klar. Das, was die Mitglieder der Linie Neun ‚Lehrgeld‘ nennen — wenn zum Beispiel Platten erst gar nicht, und dann nach sechs Monaten nur von der Hitze verbogen bei einem Plattenladen in Australien ankommen. Man lernt eben dazu; man fängt an, Zeitpläne zu machen, sowas eben. Man lernt, dass Platten leiser werden, wenn sie Überlänge haben, weil die Spuren enger gepresst werden müssen. Man lernt, dass Pressen 6-8 Monate dauert, und dass bei der Auftragserteilung alles schon da sein muss. Men lernt, ein digital-release muss man anders promoten damit es nicht versuppt. Und ich lerne: Wenn die Gruppe das kommerziell machen wollte, dann müsste man wohl hart an sich arbeiten. Nur ist das aber eben nicht das Ziel. Das Ziel ist es, Erfurter Künstler:innen eine weitere Plattform zu geben, die es erlaubt, Erfurter Kräfte zu bündeln. Und das funktioniert so schon ganz gut. Das Scheitern im Kleinen bedeutet für das Große dann halt Lernen – weil Erfurt diesen Platz zum kleinen Scheitern lässt.

Koju und Du

Zurück also zum neuen Release: Wer keinen Plattenspieler hat, kann einige Zeit später in den Genuss des digital-Release kommen. Priorität Nummer 1 der Linie Neun ist es aber, Musik auf Platte unter die Leute zu mixen. Das Ganze passiert in kleiner Auflage – pro Pressung gibt es nur etwa 200 Platten –, und auch das hat Vorteile. Damit ein neues Release in die Plattenläden kommt, wird die Crew dann auch kurzerhand selbst vorstellig. Das geht zwar nicht so oft, dafür ist die Betreuung dann eben aber allererste Sahne. Ein Release pro Jahr, erzählen mir die Jungs, ist eine gute Quote für das Label. Dieses Jahr ist Koju dran, dessen Platte ihr euch euch ab dem 05. September auf bandcamp im Vorverkauf sichern könnt, bevor sie am 15. September erscheint. Und wer Koju live sehen will, kann zur Release-Party am 29. September im Kickerkeller erscheinen. Genaueres gibt’s über die üblichen Kanäle.

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